Sînziana Păltineanu
ELEFANTEN­CHRONIKEN

Aus dem Englischen von Zoë Beck

Für R.

Verteidigung eines
Geschichtenerzählers

Am Montag um zwei Uhr erschien mitten auf dem Parkplatz ein Mensch, wie aus dem Nichts. Er trug eine orangefarbene Jacke und gewöhnliche Jeans. Er starrte auf den kleinen grünen Baum, der vor ihm stand, und berührte eines der Blätter. Dann ging er zum nächsten, etwas belaubteren Baum und umkreiste ihn staunend. Er besaß nicht die wissenschaftliche Neugier eines Botanikers. Er starrte den Baum nicht an, um etwas zu zergliedern oder seinen Sinn zu erkennen, sondern einfach um zu spüren. Ein rotweißes Zopfgeflecht hing von einem Zweig, blieb aber wohl unbeachtet. Der Mann kannte das flatternde bulgarische Symbol des Frühlings nicht. Es interessierte ihn nicht, und so konnte er auch nicht an die heimlich gemurmelten Wünsche desjenigen denken, der das Symbol andächtig in den aufblühenden Baum gehängt hatte. Hätte er sich je für Linguistik interessiert, hätte Saussures Baum seine Frühlingserfahrung vollkommen überschatten können. Zum Glück aber sprach der Mann in Orange wirklich nur auf Farben und Strukturen an.

Da der Frühling bereits fortgeschritten war, erschien sein Verhalten merkwürdig anachronistisch. Entweder war er gerade aus einem winterlichen nordischen Land gekommen, oder er gehörte zu den Menschen, für die Wochenenden dienstags begannen und freitags endeten und die ihre eigentliche Arbeit während der restlichen Tage erledigten. Und tatsächlich wurde sein Leben von einer anderen Kreisbewegung bestimmt. Seine Neigung, unbedeutende Details zu betrachten, sah er als Zeichen seiner Wachheit, und er war stolz darauf. Für andere hingegen wirkte sie wie sinnlose Tagträumerei oder, schlimmer noch, schändliche geistige Faulheit. Offen gestanden war er am ehesten mit sich im Reinen, wenn er erfolgreich einen Zustand der Faulheit hergestellt hatte, der anschließend sanft in Langeweile überging. Er hatte keinerlei Bedürfnis, irgendjemandem zu erklären, warum er Faulheit und Langweile suchte, während andere ihre Adrenalinschübe aus Produktivitätsorgien zogen. Fragen in diese Richtung unterband er mit einem schüchternen Lächeln und stachelte seinen herablassenden Gesprächspartner zu einem Tischtennisspiel im nächstgelegenen Park oder auf dem Campus an. Auf diese Weise konnte er wenigstens seine physische Wachheit unter Beweis stellen. Er verstand diese Spiele als eine Art Kompromissgebiet, auf das er andere locken konnte. Während der Ball pingte und pongte, zwang er seine Widersacher einzugestehen – wenn auch nur sich selbst – , dass es lohnender war, die Bedeutung von Worten auszuweiten, als eine Person einer Definition anzupassen. Die Wörterbuchgesinnten hätten nie auch nur die Chance, sein doppeltes Spiel beim Tischtennis zu verstehen, weil die Person in Orange während dieser Spiele nahezu still war. Nur der leere Klang eines Plastikballs durchlöcherte die Wechselbeziehung. Er teilte niemals seine Schlussfolgerungen über unterschiedliche Arten von Wachheit oder seine inneren Monologe über Konzepte oder Bezeichnungen mit seinen Kontrahenten. Auf der Tischtennisplatte wurde der Punktestand nie in Sätzen oder Wortwechseln verkündet, nur in Zahlen, die er wie Eier in einem Eierkarton in einem Winkel seines Geistes anordnete, während er auf der Hauptbühne in beiden Spielen triumphierte und seinen Doppelsieg gnädig verbarg. So war seine Vorstellung. So war unsere Figur im Frühjahr.

Im Winter war das Areal seiner Neugier eingefroren. Die Stadt war eine Eismasse, und er stellte sich den öffentlichen Bus als einen warmen, beweglichen Tunnel vor. Dort fühlte er sich geborgen und suchte sich immer einen Platz neben einer Heizung (wenn möglich) und am Fenster. Dort erlebte er gern den Winter: in seiner Projektion eines warmen Kontinuums, durch Fenster geschützt. Von seinem Platz aus betrachtete er gern die Schulkinder mit den schweren Ranzen bei ihren Winterspielen. Sie bewarfen sich von beiden Seiten der Straße aus mit Schneebällen, aber oft wurde ihre Wurfbahn von Busfenstern zerschnitten. Das krachende Geräusch brachte ihn sofort zum Lächeln. Niemals hätte er seinen geschützten Platz im Bus gegen den rühmlichen Moment, derjenige zu sein, der den Bus mit Schneebällen trifft, eingetauscht. In seinem beweglichen Tunnel, in dem er der pensionierte Kapitän war, fühlte er sich sicher und geschützt, nahezu unberührbar. So schien es jedenfalls, bis eines Tages im späten Winter seine gemütliche Seifenblase platzte.

An einer Kreuzung färbte sich das Busfenster im Licht der Ampel. Es schien zu erröten und ihn anzulächeln. Aber der Passagier war mit den Gedanken so in seinen Erinnerungen versunken, dass dieses äußere Detail seiner Aufmerksamkeit entging. Kurz danach bog der Bus quietschend nach links ab. Sein Kopf neigte sich achtlos, als würde er der Richtungsänderung zustimmen. Auf drei Uhr – in der Richtung, nicht der Zeit – , sah er an einem Fußgängerüberweg eine malerisch buckelige Frau, geboren in einem anderen Jahrhundert. Sie stützte sich mit so viel Würde, wie sie nicht mehr viele alte Leute heutzutage besitzen, auf einen Einkaufstrolley. Er war entzückt. Und während sie wartete, fing er an, nach Details zu suchen, wie eine Maus nach Käse. Schon bald bemerkte er, dass ihre rot gefrorene Nase tropfte. Unter dem Vergrößerungsglas seiner Vorstellung nahm dieser sonderbar durchsichtige Tropfen groteske Ausmaße an. Die Konturen der Frau schienen in Milliarden Pixel zu zerstäuben, während er sich auf den zuckenden, anwachsenden, aber noch nicht gefrorenen Tropfen konzentrierte.

Er war wie in Trance und konnte einfach nicht wegsehen. Und dann geschah es innerhalb einer Sekunde, wie alles Erbauliche: Sein Tunnel verschwand, und er fand sich minutenlang umzingelt von Fragen und Zweifeln. Wie konnte dieser Schleimtropfen die Zufriedenheit seines Herzens, seine angenehme und geschützte Reise zerstören? Warum war ein Schleimtropfen stärker als seine Seifenblase? Er hatte sich wegen des Winters, oder vielmehr wegen seiner Unfähigkeit, den Winter zu verstehen, einen eigenen Tunnel erschaffen, so gut er konnte. Er war kein Architekt und auch kein Bauingenieur. Er hegte eine starke persönliche Abscheu gegen Beton. Er konnte sich also nur einen sicheren und warmen Tunnel erschaffen, er hatte, seit der erste Schnee gefallen war, jeden einzelnen Tag daran gearbeitet. Und nun, ganz plötzlich, fühlte er einen winterkalten Schauer den Rücken hinunterlaufen und erkannte, dass ein Schleimtropfen sein beruhigendes Konstrukt zersetzt hatte. Er konnte nur noch seinen Körper langsam in der Ironie der Situation versinken lassen. Nur sich selbst war es vorzuwerfen, dass er die hypnotische Kraft eines durchsichtigen Schleimtropfens unterschätzt hatte. Normalerweise wischte er ihn mit einem Taschentuch und einer raschen Bewegung weg, so wie es jeder tun würde.

Aber diesmal setzte er seine Analyse fort und wog ihren Tropfen gegen seine Seifenblase auf. Er wusste genau, wie viel Zeit er für die Erschaffung seines eigenen warmen, gemütlichen Bereichs benötigt hatte. Seit Wintereinbruch war er davon ausgegangen, dass der Niedergang seines Tunnels von innen her kommen würde, durch betrunkene, aggressive Passagiere oder vielleicht durch eine neugierige Ratte. Er hatte sogar einen gedanklichen Schutzschild gegen solche fantasielosen, zersetzenden Akteure griffbereit in seiner linken Hosentasche. Bei einigen nächtlichen Fahrten war er tatsächlich ganz kurz davor gewesen, ihn einzusetzen und seine Konstruktion zu verteidigen, aber dann hatte er sich jedes Mal dagegen entschieden. Es lohnte noch nicht, dachte er. Er trug seinen gedanklichen Schild – eine Kombination aus einem brennenden Vergrößerungsglas und einem blendenden Spiegel – mit der Ruhe und der Sicherheit bei sich, wie andere Menschen mit Pfefferspray in ihren Taschen herumspazierten. Und nur weil niemand je die Auswirkungen seines Schilds gesehen oder gespürt hatte, hieß das nicht, dass er es im Notfall nicht hätte benutzen können. War der Moment gekommen? Das Bild der achtbaren alten Frau mit der tropfenden roten Nase, die am Straßenrand fror, hatte ihn völlig verstört und seinen Schild unbrauchbar gemacht.

Und während er darüber nachgrübelte, wie fragil und verletzlich die Konstrukte seiner Vorstellung waren, fiel ihm schließlich auf, dass er möglicherweise die Brüchigkeit seiner unendlichen Geschichten nicht mehr ertragen konnte. Eine Möglichkeit war, sie selbst zu beenden und fortzublasen wie man eine Seifenblase wegbläst, oder, in diesem Fall eher, wie man durch die Nase schnaubt. Was ihn am meisten störte: dass ein externes Element stark genug war, seine gedanklichen Projektionen nicht nur zu unterbrechen oder zu verändern, sondern sie vollständig zu beenden. Aber er wusste, dass er nur Versteck mit sich selbst spielte. Die Kraft, die seine eigene Tunnelkonstruktion zersetzt hatte, war ebenfalls nur ein Produkt seines Vorstellungsfilters. Auf diese Art den Tunnel zu zerstören, war ein verhalten rachsüchtiger, aber höchst befreiender Schlag für den Mann in Orange. Letztendlich hatten ihn Bequemlichkeit und Stolz auf den Tunnel auf inakzeptable Weise betäubt. Unter diesen Umständen, die er als durchschnittlich langweilig ansah, betrachtete er den Schleimtropfen als Kapsel, die die gesamte Menschheit, zu der er den Kontakt verloren hatte, umschloss. Er entschied sich, sein Konstrukt unmerklich implodieren zu lassen. In seinem Kokon setzte er den Tropfen mit einer Bombe in einer Metropole gleich. Also platzierte er ihn und stieg aus dem Bus.

Es wäre unklug, die geistigen Manöver dieses Mannes zu werten, denn sie waren allein seine Angelegenheit. Falls jemand seine Formulierungen und höchst wahrscheinlich auch ihn als Figur für unpassend erachtet, hat er ihn von Anfang an falsch verstanden. Nur wenige konnten etwas zu seiner Verteidigung vorbringen. Unter ihnen befanden sich zwei Angestellte des örtlichen Archivs einer unbedeutenden, entlegenen Stadt, in die L.L. kürzlich gezogen war. Es muss im selben Winter gewesen sein, in dem L.L. auf den unterschätzten Schleimtropfen traf, den er, einer vernichtenden und spielerischen Eingebung des Augenblicks folgend, wegzupusten beschloss. Nach diesem Anflug von Vergnügen fuhr er fort, als sei nichts Besonderes geschehen. Er entschied sich für seine bevorzugte Rute zum örtlichen Archiv und kehrte zu seiner jahrelangen Gewohnheit zurück: alte Nachrichten lesen und den Archivaren Geschichten erzählen – manchmal einmal in der Woche, manchmal einmal im Monat. Während der folgenden vier Jahreszeiten würde er damit gewissenhaft weitermachen. Obwohl er zunächst den Eindruck einer bizarren und anachronistischen Persönlichkeit machte, unterhielt der Mann in Orange – oder Herr L.L., als den ihn diese Angestellten kannten – tatsächlich Beziehungen zu Menschen.

Laut einer vertraulichen Unterhaltung zwischen den Archivaren schien L.L., vornehmlich aufgrund der feierlichen Art, mit der er Objekte berührte und sich im Lesesaal aufhielt, ein auf den ersten Blick merkwürdiger Geist zu sein. Hier, an einem Tisch mit hoch aufgestapelten alten Zeitungen und Dokumenten in vielen verschiedenen Sprachen, fühlte sich Herr L.L. am richtigen Ort. Der erste Eindruck der Archivare war, dass er aus dem Nichts kam, um nahezu nichts von Wichtigkeit zu tun. Außer ihnen Geschichten zu erzählen, die auf dem Archivmaterial beruhten, das er unter ihren bewundernden Augen untersuchte. Als die Winterwochen vergingen, hatten sie Herrn L.L. liebgewonnen und behandelten ihn mit einer Mischung aus Umsicht und Neugier, so wie sie ihre Dokumente behandelt hatten, als sie vor Jahrzehnten in diesem Beruf angefangen hatten.

Aber diese Zuneigung sollte noch wachsen und von Herrn L.L. erwidert werden. Während der ersten Wochen ähnelte die Beziehung, die er mit den Archivaren aufzubauen begann, der zwischen einem Stammkunden einer Bar und freundlichen Bedienungen. Er kam zu einer bestimmten Zeit herein und setzte sich an denselben Tisch mit derselben Stille, mit der eine Frau ihren Hut neben sich auf die Kirchenbank legen würde.

Herr L.L. hatte ein kleines Problem mit dem Archiv und seinen Hütern. Er hatte es nie geschafft, den Archivaren eine einfache Nachricht zu vermitteln: Der Gebrauch von „Herr“ im gesamten Archiv verwirrte ihn. Er hatte nicht etwa Angst davor, dass ihn der Gebrauch dieser Anrede in die Marmorstatue eines toten Denkers verwandeln könnte – auch wenn L.L., der wenig mit den meisten zeitgenössischen Gelehrten gemeinsam hatte, von diesem Gedanken schlecht werden würde. Sein Problem lag eher bei seinen Monologen über Bezeichnungen und Definitionen. Es hatte diesmal etwas mit seiner persönliche Vorliebe für genderneutrale Pronomen, wenn sich Fremde auf sihn in der dritten Person bezogen, zu tun. Und doch wagte er nie, ihnen seinen Wunsch explizit vorzutragen. Nur in verbalen Interaktionen mit seinen Freunden hatte L.L. die strenge Forderung aufgestellt: Sie wurden angehalten, zwischen den weiblichen und männlichen Pronomen der dritten Person zu wechseln, wenn sie sich auf sihn bezogen. Die Archivare konnten – wegen L.L.s tiefer, rauer Stimme, sihrer Art zu nuscheln und sihren dunklen Ringen – nur an Benicio del Toro denken. Und tatsächlich verband den charismatischen Schauspieler und L.L. außer diesen Eigenschaften noch die Vorliebe für einsilbige Antworten. Solche Antworten ließen die Fragenden lächerliche Folgefragen formulieren, die die Eingangsfrage in wenigstens fünf weitere aufbrach. Von der Benicio del Toro-Verbindung zu einer Frage wie „Hi, und mit welchem Pronomen sollen wir uns heute auf Sie in der dritten Person beziehen?“ zu gelangen, hätte hier alle Erwartungen übertroffen, bedenkt man den Handlungsort und die konventionellen Gedankenmuster der Akteure. Aber wie dem auch sei, der Gebrauch von Pronomen war für L.L. die einzige Unannehmlichkeit im Archiv; die Zeit, in denen er seine Geschichten erzählte, blieb der Höhepunkt der Woche oder des Monats für alle Beteiligten.

Obwohl er zunächst den Eindruck hinterließ, nichts weiter als ein Träumer zu sein, war L.L. tatsächlich eine komplexe Person mit vielen Begabungen. Seine Fremdsprachenkenntnisse glichen geradezu denen eines gestandenen Historikers und übertrafen deutlich die eines Linguisten. Gerüchten zufolge hatte L.L. in seiner Jugend angefangen, Fremdsprachen zu lernen, weil er annahm, dass derjenige, der viele Sprachen beherrschte, niemals verhungern würde. Später, als L.L. in seinen Dreißigern war, beschloss er, seine Sprachfähigkeiten nicht länger für Geld anzubieten. Dank einer Glückssträhne, die ihm finanzielle Sicherheit für eine bescheidene Zukunft eingebracht hatte, konnte er es sich erlauben, sein Interesse an Sprachen nicht weiter durch das Streben nach Profit zu verunreinigen. Stattdessen widmete L.L. immer mehr seiner Zeit der Lektüre, wie die Befürchtungen und Gedanken über die Zukunft, die augenblicklich herrschten, in der fernen Vergangenheit aussahen. In der dritten Dekade seines Lebens benutzte L.L. die Sprache als solche ohne einen pragmatischen oder formalen Bezug zur Allgemeinheit. Je älter er wurde, desto überzeugter war L.L. davon, dass sein unablässiger Gebrauch verschiedener Fremdsprachen – paradoxerweise – eine Kommunikationsflucht darstellte. L.L. verwandte aus experimentellen Erwägungen eine recht lange Zeitspanne darauf, beharrlich von der Bequemlichkeit oder Unbequemlichkeit eines Sprachkreises zum nächsten zu springen. Begleitet nur vom lauten Klang einer Folge unvollständiger Sätze, die ihn meist zu einem örtlichen Archiv führte. Nun, am Beginn seiner vierten Lebensdekade, bemerkte L.L. wohl oder übel, dass er diese bunte Mischung aus Unbequemlichkeit und Spiel dem Gebrauch nur einer Sprache vorzog. Ein waches, ortsansässiges Auge konnte L.L. manchmal dabei beobachten, wie er durch die Stadt wanderte und sein Kopf in ein buntes Tuch aus Fremdsprachen gewickelt war. Er stolperte oft.

In seinen Dreißigern erhob L.L. immer öfter Einwände gegen anerkannte Definitionen und Identitäten. Es war allerdings keine Identitätsdebatte, die er in wissenschaftlichen Zeitschriften oder Vorworten von Büchern führen würde. Es war lediglich eine direkte und persönliche Schlacht, die L.L. schlagen musste. Trotz seiner Fähigkeiten und seiner Erziehung wagte es L.L., sich lose als einen „Freischaffenden in den Geisteswissenschaften“ zu bezeichnen. Auf drängende Nachfrage würde er seine Beschäftigung als ein gelegentlich bezahltes Faktotum mit einer flexiblen Bandbreite an Hobbys beschreiben. (Für sich würde L.L. „Hobbys“ mit „gescheiterten Berufen“ übersetzen.) In jedem Fall würde er die ausweichendste Antwort geben, die ihm möglich war, und wenn die Unterhaltung diesen Tiefpunkt erreichte, würde der Fragende es vorziehen das Thema nicht weiter zu vertiefen. Eines stand fest: L.L. wurde von einer Abneigung gegen Überprofessionalisierung und pulsierenden Karrieredruck getrieben. Indem er alles, was mit seiner formalen Ausbildung zu tun hatte, geheim hielt, hoffte L.L., sich eine am Rande befindliche – und dadurch angenehme – Position in jeder Gesellschaft, die er zu besuchen gedachte, sichern zu können. So würde er es sich leisten können, nach Belieben zwischen Hochhäusern aus Kategorien und Berufen ins kalte Wasser zu springen.

L.L.s Interesse, Schichten der Zeithaftigkeit zu erforschen, zeigte sich bereits, als er ein junger Erwachsener war. Seine intensiven Aufenthalte in den Archiven spiegelten seine Ernsthaftigkeit und die Hingabe wider, über vergangene Zukünfte zu lesen. Er beschrieb es, indem er sich eines Satzes bediente, den er als Kind in einer Ausgabe des Spectator von 1839 gelesen hatte: „[Meine] Gewohnheit, die Zukunft aus der Vergangenheit zu lesen.“ Und obwohl ihn seine frühe Neigung zu solchen Dingen nie in Richtung Wahrsagerei gelenkt hatte, schien er aus dem Blickwinkel der Archivare in die Fußstapfen des alten Königs Fu zu treten, eine bemerkenswerte Person, die mit der Gabe gesegnet war, die Zukunft der europäischen Herrscher voraussagen zu können. Und vielleicht waren die Archivare L.L.s höchst beständigem Selbst niemals näher.

Seit über einem Jahrzehnt widmete L.L. zahllose Monate den banalen und scheinbar bedeutungslosen täglichen Begebenheiten der Vergangenheit, die das Leben anonymer Menschen bereichert hatten. Zeitlich ungezwungen und ungestört, genoss er es, durch alte Zeitungen zu blättern und nach nichts Bestimmtem zu suchen. Sobald L.L. anfing, diese gelblichen Seiten umzuschlagen, flossen seine Emotionen wie die Donau, und die Artikel wurden zu Segelschiffen. Die Archivare, die zu seinen Gunsten aussagen konnten, lernten schnell, dass alte Anzeigen in L.L. nahezu krampfartige Reaktionswellen auslösten, die ihn nach Luft schnappen und seinen Stuhl quietschen ließen. Wenn sie diese Geräusche hörten, hoben die Archivare nur ihre grauen Augenbrauen und kratzten sich hinter den Ohren, in ungeduldiger Erwartung, dass L.L. sich die Nase putzte – ein Zeichen dafür, dass er gleich seine Forschungserkenntnisse in eine Erzählung übersetzen würde. Durch die Art und Weise, in der er sich die Nase putzte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, betrachteten die Archivare Herrn L.L. als ein eher seltsames Kunstprodukt.

Für L.L. hatten diese alten Zeitungen mit ihren abgelaufenen Neuigkeiten den Wert eines Samisdat, dessen Kommunikationskanäle versäumt hatten, ihn zum passenden Zeitpunkt in der Geschichte seiner zugedachten Leserschaft zukommen zu lassen. Eine seiner Interpretationen befand, dass die Texte, die er las, eigentlich unbeabsichtigte Schriften für die Zukunft waren. Die gesamte Zeit, die L.L. in das Lesen der Geschichten aus der Vergangenheit investierte, war seiner Überzeugung geschuldet, dass gute Texte einen angemessenen Anteil der Zeit und Aufmerksamkeit des Lesers verdienten, auch wenn dies nur eine höfliche, stumme Geste wäre, dem Autor etwas zurückzugeben. Er mochte es nämlich, seine Lieblingstexte zu lesen, als hätte er selbst sie verfasst, aber über die Jahre vollkommen deren Wörter vergessen. Für einige Doktoranden mochte ein wachsender Prokrastinationsschatten neben einer großen Flasche voller Amphetamine der richtige Begleiter sein, um des Nachts durch ein Buch zu rasen. Aber das wäre kaum L.L.s Vorstellung von wissenschaftlichem Enthusiasmus. Und deshalb trat ein naiver Hauch von Anachronismus wieder an die Oberfläche … oder war es Exzentrik, die er sich glücklicherweise leisten konnte? Eine beneidenswerte Exzentrik gar? Oder einfach nur Heuchelei? Das ließ sich nur schwer genau sagen, es war aber jedenfalls harmlos und eigentümlich genug, um vertretbar zu sein. Und doch war all das besonders unwichtig und spöttisch, denn das Filmische begann erst zu einer bestimmten Tageszeit. L.L. erzählte keine Geschichten, wenn sie nicht von etwas Magie umgeben waren, etwas Dunst … etwas Schwebendem.

Der Widerspruch

Drei Jahreszeiten nachdem L.L. den Schleimtropfen weggepustet hatte, beging er einen weiteren normalen Herbsttag, an dem er Fragmente, Bilder und Episoden frei dissoziieren und assoziieren ließ.

 

Morgens stolperte er zum Küchenfenster und sah, dass Regentropfen ohne Hast vom Himmel fielen. Zunächst konzentrierte er sich auf die großen Tropfen und schenkte jedem einzelnen von ihnen mit dem halbhypnotisierten Blick des halb Erwachten Beachtung. Unter seinen Augen schienen die Tropfen vergrößert, und ihr Fall verlangsamte sich sichtbar.

Einen halben Meter vom Fenster entfernt, umfasste L.L.s Morgenbild eine Baumspitze mit glänzenden grünen Blättern und eine epikureische Schnecke, die den rhythmischen Regen des anbrechenden Septembers genoss. Zwei bunte und noch unbestimmte Punkte brachten Leben in den entfernten Hintergrund dieser morgenlangsamen Erfassung. Es handelte sich um nichts anderes als zwei Schuhpaare. L.L.s Nachbar von gegenüber ließ immer ein Paar gelbe Gummistiefel und ein Paar hell orangefarbene Sneakers draußen auf einer schmalen und schattigen Fensterbank. Letztere schienen eine Dauerinstallation auf der Fensterbank zu sein. Sie hatten L.L.s Aufmerksamkeit gleich nach seinem Einzug in die neue Wohnung zu Beginn des vergangenen Winters auf sich gezogen.

Das Kinn auf die Hand gestützt, hielt L.L. seinen Blick auf den Schleier aus fast völlig bewegungslosen Regentropfen. Er grübelte ein wenig länger über der fotografischen Qualität dieses Bildes, bis er sich entschied, dass es an der Zeit sei, es ernsthaft regnen zu lassen. Seine kleine Morgenübung – die Regentropfen zu verlangsamen, wie in der Szene in The Grandmaster, und in der Küche so zu tun, als sei er Philippe Le Sourd – war beendet. Schließlich versuchten deutlich beunruhigendere Dinge, seiner habhaft zu werden. Er konnte sie bereits spüren. Hastig drehte sich L.L. um und ließ den Blick misstrauisch durch die Küche schweifen. Er hätte schwören können, dass er irgendwo hinter sich jemanden gehört hatte, der in einem verklingenden, unablässigen Flüstern seine ersten morgendlichen Schritte in diesen Raum und sein Betrachten der Regentropfen beschrieb.

Aber sobald er sich umgedreht hatte, hörten die Geräusche auf, und L.L. blieb mit leicht verschwommener Sicht zurück. Ein Teil seines Gehirns wollte die Erinnerung an das erzählende Flüstern ignorieren, ein anderer Teil hisste sie wie eine Flagge in irgendeinem seiner Cortexareale.

Unfähig, seine beunruhigenden, verworrenen Gefühle sofort identifizieren zu können, wich L.L. ein paar Minuten später ein paar diskrete Schritte zurück ins Wohnzimmer und beschloss zu warten, ob sie ungebeten zu ihm kamen. Er verbrachte die weiteren Morgenstunden in seinem Sessel nahe einem Tisch und blätterte durch ein schwarzweißes Buch mit dadaistischer Kunst und Dichtung, das er sich letztens in einer Universitätsbuchhandlung selbst zum Geschenk gemacht hatte. Die neue Anschaffung hatte ihn in überschwänglicher Stimmung den Heimweg antreten lassen. Als er aber nun Seite für Seite umblätterte, wurde sein Gesicht immer besorgter, sein Blick wanderte immer häufiger aus dem Fenster. Das war der Zeitpunkt, an dem die ruhelose Tatsache in seinem Wohnzimmer wie ein Fisch in einem Teich an die Oberfläche kam.

In jenem Jahr änderten sich L.L.s Gefühle allmählich für die Jahreszeiten der Erde. Noch bevor er den Herbst riechen konnte, eilten seine Gedanken mit einer freudigen Erregung, die ihn vollkommen überraschte, bereits zum ersten Schnee. Basierend auf seinen winterängstlichen Erfahrungen, repräsentierte dieses immer umfassender werdende Gefühl einen Widerspruch, den L.L. absichtlich langsam untersuchen wollte. Obwohl der Winter immer die Zeit seines inneren Zusammenbruchs gewesen war, bereitete ihm die Aussicht, die Zeichen der Jahreszeiten vom selben geographischen Punkt zweimal hintereinander beobachten zu können, fast schon einen wohligen Schauer. Für die meisten mochte das trivial erscheinen, aber für L.L. bedeutete es, dass er seinen Hinterhof ein weiteres Mal dieselben Farbwechsel durchlaufen sehen würde. Es war ein merkwürdiges, beunruhigendes und doch fast schon heimeliges Gefühl, das L.L., seit er erwachsen war, noch nie erlebt hatte. Und all diese Umstände zusammengenommen ließen L.L. über das Herannahen des Winters und seine rätselhafte emotionale Reaktion darauf längere Zeit grübeln.

Etwa während des letzten Jahrzehnts, als er unterschiedliche Arten des Zusammenwohnens (meistens mit Studenten, gelegentlich mit Hausbesetzern) ausprobiert hatte, waren die Räume, in denen L.L. seine meiste Zeit verbrachte, Archive gewesen. Aber selbst diese Orte konnten ihn nicht halten. Er besuchte die Archive unterschiedlicher Städte, um die Zeitschichten, die in kalten Gebäuden untergebracht waren, zu fühlen, und dann, nach ein paar Jahreszeiten, als der Reiz vergangen war, zog er mit seinem einzigen Koffer weiter. Auf diese Art reiste er durch die Welt, und die Archive waren die einzigen Namen, die er auf seiner Landkarte vermerkte. Sein letzter Umzug fügte als Teil seines größeren Plans noch etwas hinzu: unablässig daran zu arbeiten, die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart dünner, fast schon durchlässig zu machen. Um seine Absicht zu unterstützen, Vergangenheit und Gegenwart fortwährend zu durchmischen, verzahnte er oft Fragmente seiner Erinnerung miteinander, ließ sie kommen und gehen, wie es ihnen passte. Zusätzlich trug L.L. immer alles, was er von seinen gewaltigen, redlichen Anstrengung in den Archiven abgespeichert hatte, in einer kleinen, schwarzen Box mit sich. Diese externe Festplatte war eine Art Navigationssystem, in dem er fleißig seine persönlichen Geschichten verschlüsselte. Einem Historiker, der in der Zukunft über L.L schreiben würde, wäre diese schwarze Box eine wunderbare elektronische Quelle für eine Ego-Geschichtsschreibung. Für L.L. fasste sie private Dinge und Steckenpferde zusammen.

Als wäre er von seinem Körper entfremdet, sah sich L.L. selbst dabei zu, wie er in dem Sessel schaukelte. Das Dada-Buch lag noch immer auf seinem Schoß, die Vor- und Zurückbewegung ließen ihn immer tiefer eintauchen in den wachsenden Widerspruch des Tages, um ihn dann letztlich zur Akzeptanz zu überlisten.

Nicht weit vom 47. nördlichen Breitengrad entfernt geboren, konnte L.L. Winter nur überleben, indem er diese warmen Blasen in seinen Gedanken schuf, bevor er das Haus verließ. Beispielsweise hatte L.L. eine der Seifenblasen des vergangenen Winters entwickelt, diejenige, die schließlich mit dem Schleimtropfen der alten Frau kollidiert war, während er seinem Trott beim örtlichen Archiv nachging. Natürlich war es keine leichte Übung, diese schützenden Blasen zu erzeugen. Vielmehr entsprachen sie dem erfolgreichen Anpflanzen von Bäumen in den Sandböden von Burkina Faso. Und als die Blasen schließlich platzten, erwärmte sich L.L.s Herz.

Obwohl es ihm in seinem ganzen Leben nie in den Sinn gekommen wäre, ungeduldig auf den Winter zu warten, genoss L.L. die süße Erregung, die er nun für den Winter empfand. Diese geringfügig wahrzunehmende Veränderung in dem, wie er sich zu den Jahreszeiten verhielt, musste mit dem Umstand zu tun haben, dass er ebenfalls erst kürzlich seinen soziologischen Status vom Wanderer zum Fremden geändert hatte – „der, der heute kommt und morgen bleibt“. Zumindest war das der Beginn einer Erklärung, die sich L.L. sorgfältig zurechtlegte. Es könnte einen anderen Grund hinter dieser Verhaltensänderung gegeben haben, aber L.L. machte weiter und wirbelte seine Abschweifungen mit einem Teelöffelchen auf wie Zucker in einer Teetasse.

Mitten in dem sanften Strudel, den er am Tisch begonnen hatte, sprang L.L. auf, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Einer imaginierten geraden Linie folgend, durchschritt er das Wohnzimmer und zählte zweiundvierzig großzügige Schritte bis zum Badezimmer.

„Exakt zweiundvierzig!“, sagte er laut und erinnerte sich daran, wie seine linke Freundin A. bei ihrem Besuch im August gerufen hatte: „Was für eine Platzverschwendung! Diese Wohnung lässt mein Herz bei jedem Schritt erschaudern!“

Es stimmte. Einige Leute fanden, dass L.L.s neue Wohnung viel zu groß war. Je nachdem, ob seine Besucherin zuerst mit dem linken Fuß oder dem rechten die Wohnung betrat, empfand sie sie als wahrhaft bürgerlich oder auch nicht. Genau in diesem sehr bezeichnenden Moment runzelte L.L. die Stirn, als würde er nicht nur dem Kommentar seiner Freundin widersprechen, sondern auch dem, was hier gerade geflüstert und aufgezeichnet wurde. Diese sofortige mimische Reaktion bestätigte die Tatsache, dass L.L.s Sensibilität dabei war, einige Grenzen zu überschreiten.

Seine Antwort folgte schnell.

„Mit jeder Kritik an meinem riesigen Hauptsitz, die Sie hier anmelden, wachsen Sie um einen Fuß“, murmelte er und schrieb den folgenden Satz in Druckbuchstaben auf ein Blatt Papier:

„Alices Regel Nummer 42 – Personen, die größer als eine Meile sind, haben das Gericht zu verlassen!“

Mit diesem Stück Papier in der Hand beabsichtigte er, seine Wohnung gegen alle Kritiker zu verteidigen. An die Wand geheftet wartete Regel zweiundvierzig darauf, dass man sich auf sie beziehe, um Gäste hinauszuwerfen, wenn sie wiederholt unangemessene Kommentare abgaben. So ernst nahm L.L. den Rechtsgrundsatz in seinem Wunderland.

A., eine langjährige Freundin, hatte L.L. vor ein paar Wochen besucht und sich auf diesen quietschenden Sessel in der dunkelsten Ecke des Raums gesetzt, gleich dort, wo Regel zweiundvierzig nun hing. Im Schneidersitz rügte sie L.L. für die Wahl seiner Behausung und verlangte dann nach Modemagazinen, als wäre sie beim Frisör.

Als A. die Magazine nicht bekam, verdrehte sie ihre großen Augen und machte ein paar Vorschläge, wie sich die Atmosphäre in der angrenzenden Ecke des Raumes verbessern ließe.

„Das sollte eine Kinoecke sein“, sagte sie mit Nachdruck. „Ich sehe hier die Projektion eines Fotos von einer Handvoll Blumensamen. Ein gelbes Foto an dieser Wand muntert dich an Winterabenden bestimmt auf – sogar mehr noch als eine Katze.“

A., die mit L.L.s emotionaler Lage im Winter bestens vertraut war, versuchte, zu seinem Wohlbefinden beizutragen. Und er billigte stumm diese Idee, indem er einfach nur ihrem Blick für ein paar Sekunden standhielt. Kurz darauf besorgte sich L.L. einen gebrauchten Projektor, der ein vernehmliches Geräusch machte, wenn er eingeschaltet war.

„Perfekt“, dachte L.L., „ein Hummelmotor ist ein wichtiger Bestandteil der Installation. Das nenne ich Komfortgeräusch!“ Dann dachte er kurz darüber nach, das Dia mit den Sonnenblumensamen mit anderen Bildern abzuwechseln.

„Vielleicht mit den ersten Filmen der Lumière-Brüder …“, murmelte er. „Die Schneeballschlacht!“ Aber die Idee schien ihm weit hergeholt, eine Filmecke verwandelt sich zu schnell in einen leeren Kinoclub.

Im Winter war das Kino (und nahezu alles, was entfernt damit zu tun hatte) sein Rettungsboot, und die meiste Zeit versuchte er, während dieser kalten, langen und bedeutungslosen Nächte sich über Wasser zu halten. In einem der letzten Winter hatten die Worte einer Fremden – einer alten Dame aus einer Stadt der früheren Habsburgermonarchie, die er einmal in einer Budapester Straßenbahn gesehen und gehört hatte – bei L.L. Widerhall gefunden.

Und als L.L. anfing, seine Erinnerungsfetzen zu drehen wie ein Raucher seine Zigarette, bewiesen die lebhaften Details, die in seinem Gedächtnis auftauchten, dass seine Fähigkeit, sich dieser kurzen Begegnung in der gelben Straßenbahn zu erinnern, bemerkenswert war.

Vier Meter über den Köpfen der Passanten schlug die Stadtuhr, um das Ende eines weiteren Wintertages zu verkünden: Es war zwei Uhr fünfundfünfzig. Mit der Präzision eines Metronoms hielt die Straßenbahn an der Haltestelle, die Türen öffneten sich der Kälte, und eine junge Person bestieg diesen mobilen Mechanismus. Sie setzte sich, ohne das Lesen der Übersetzung eines japanischen Romans zu unterbrechen und ohne die Straßenbahn und ihre reizbaren Fremden überhaupt wahrzunehmen. Rosige Finger waren stets bereit, eine Seite umzublättern, und sie ließ sich auch nicht stören, als sich eine alte Frau neben sie fallen ließ. L.L., der Reisende, saß den beiden Frauen gegenüber, bemerkte die volle Konzentration der Leserin, die selbst dann andauerte, als die Dame ihre rechte Faust in diesen engen Spalt zwischen den beiden Sitzen rammte, da die Straßenbahn, die sich einer Haltestelle oder einer Kreuzung näherte, langsamer wurde. Die alte Dame hatte Mühe, ihr Gleichweicht zu halten. Ein minimalistisches Porträt – unterbrochenes Gemurmel, vorsichtiges Umherblicken, schwarze Lederhandschuhe und eine Orange in ihrer linken Hand. Nach weiteren zehn Minuten monotoner Fahrt wandte sich die alte Dame überraschend der jungen Frau zu und sagte in einem Atemzug:

„Bisher konnte ich in meinem Leben manchmal die Bedeutung von alledem erkennen. Und wenn ich sie nicht mehr sehen konnte, fand ich Schönheit. Kaum jemals beides zusammen. Und wenn ich keines davon sah … nun, das war der unerträglichste Zustand.“

Ohne der Adressatin die Möglichkeit einer Antwort zu geben, wandte die alte Frau ihr Gesicht ab und richtete ihren durchdringenden Blick auf die heruntergekommenen Gebäude am Großen Ring. Nur eine Sekunde später sah die Leserin verwundert auf, um zu schauen, wer in ihrer Umgebung gerade gesprochen hatte. Während sie ihren Kopf fast wie eine Eule drehte und die Mitreisenden musterte, fand die Leserin alle in sich selbst versunken und still. Verwirrt hielt sie inne. Ein seltsamer Moment, könnte sie gedacht haben, bevor sie sich wieder dem Lesen ihrer Fiktion hingab.

L.L. beendete seinen Rückblick, indem er die Gesichter aller Passagiere magisch mit der Nacht verschmelzen ließ. Er hatte das Bild der alten Dame mit der Orange unter den Ereignissen abgespeichert, die zum Zeitpunkt des Geschehens nicht vollständig verstanden werden können, aber das Potential haben, später Bedeutung zu erlangen. Im Winter war L.L. eher in der Lage, diese bizarren Begebenheiten des Alltags aufzunehmen. Manchmal erinnerte er sich sogar an Kleinigkeiten, Dinge, die sich regelmäßig wiederholten, ohne notwendigerweise etwas Mysteriöses an sich zu haben: ein gekochtes Ei, dass auf den Tisch knallt, auf dem ein Papiertuch liegt, das die Feuchtigkeit aufsaugt, ein feuchter Ring bildet sich um das Ei (in L.L.s Vorstellung bestand dieses Bild einzig aus Blauschattierungen mit einem kühlen Farbfilter); die Glühbirne, die einen halben Meter von der Decke hängt, und ihr doppelter nächtlicher Schatten (schwarzweiß); das Geräusch von Holzspielzeug, das von der Straße hinaufdringt, begleitet von Kinderlachen (rot und andere leuchtende Farben). L.L. stellte all diese Fragmente willkürlich zusammen, zum privaten Vergnügen oder für beiläufige Unterhaltungen, je nach Anlass und Neigungen der betreffenden Personen.

Währenddessen fing auf dem Tisch im Wohnzimmer L.L.s Glas mit Wasser und persischem Rhabarbersirup die Strahlen der Septembersonne mit seinem sehr massiven Boden auf. Aus einem bestimmten Winkel schien das Glas ein strahlend gelber Stein zu sein. Ein paar Meter dahinter stellte das weit geöffnete Fenster den Rahmen für ein frühherbstliches Bild nach dem Regen: Basilikum in später Blüte, leuchtend grüne Bäume, sterbende Gräser, später Flieder und eine beeindruckende Sammlung aus Möbeln und Metallteilen, teilweise mit Plastiküberzügen bedeckt. Das war L.L.s täglicher Blick auf den Hinterhof.

Verantwortlich für die Sammlung von Objekten, die sich im Hinterhof verteilten, war K., der Besitzer des Gebäudes. K. war eine nicht minder interessante Persönlichkeit als L.L., mit seinen Reisen und Geschichten aus dem 1960ern. Als Kind einer Familie der oberen Mittelklasse, wuchs K. während der amerikanischen Hippie-Jahrzehnte heran. Trotz seiner Erkundungen der Möglichkeiten, die das radikale Anti-Establishment damals bot, sperrte er sich, als es soweit war, nicht dagegen, zwei Gebäude von seinen Eltern zu erben. In dem einen, in dessen dritten Stockwerk L.L. lebte, lagerte er gebrauchte Möbel, ausrangierte Fahrräder und andere Metallobjekte, die er mit einem alten Lastwagen einsammelte. K. fand sie alle für ein Projekt mit dem Motto „Nichts ist Müll“ unverzichtbar. Alles musste aufbereitet und wieder in Umlauf gebracht werden, unabhängig von ästhetischen Überlegungen. Der Hinterhof als solcher war der erste Ausstellungsort für sämtliche Stücke, die K. von der Straße aufgelesen hatte. Aber über die Monate fanden die Objekte ihren Weg in die Flure aller Stockwerke und auf jede Treppenstufe. Es war wie ein lebendiger Mechanismus, wie eine Art Wurm, der seinen Leib ins Gebäude streckte. Nur noch wenige Monate, und diese Recycling-Kreatur würde an L.L.s Tür klopfen.

In jenem Sommer hatten die besondere Dynamik und der Charme des Ortes, zusammen mit K.s bescheidenem Projekt, dessen Einfluss sich über die gesamte Nachbarschaft erstreckte, L.L. davon überzeugt, länger als geplant in dieser Stadt zu bleiben. Vielleicht bremste die aufkeimende Freundschaft mit K. sein ständiges Verlangen, Vergangenheit und Gegenwart zu vermischen, indem er sich mit Höchstgeschwindigkeit in neue Zukünfte stürzte. Die Stadt, in der L.L. sich niederließ, hätte Weimar sein können, war es aber nicht. Es lässt sich leicht erkennen, dass der Name von L.L.s Seifenblase so unwichtig war wie der Ausgang von Geschichten, oder dass er so unbedeutend war wie L.L.s Augenfarbe. Viel wichtiger als der Name des Ortes war L.L.s deutliches Gespür dafür, dass er nicht am falschen Ort war. Und im Moment schien die aufkeimende süße Vorahnung auf den Winter seine Eingebung zu bestätigen.

Urbane Fragmente

Noch nie waren wir von so viel Lärm umgeben wie heute. Und noch nie wurden so viele Geräusche und Daten aufgenommen wie heute.

 

Ein wenig später am selben Tag im September, nachdem der Regen in die Erde gesickert war, zog der Baulärm von der Straße unten L.L. aus ihrem Haus. Er vertrieb sie nicht von zu Hause. Er zog sie nur heraus, wie eine Angel einen Fisch aus dem Wasser zieht. Als zaghafte Flaneurin war L.L. von den nachbarlichen Aktivitäten und der sensorischen Umgebung fasziniert, die von geschäftigen Kränen, Flaschenzügen und Sperrholzpaletten, die über einer alten Schule schaukelten, herrührten. Noch vor Einzug des Winters sollten aus dem alten Gebäude Dutzende weiße Wohnungen entstehen – ein kleines, aber nicht unbedeutendes Zeichen von Gentrifizierung und eine Veränderung, die sie nicht ignorieren konnte. Während sie mitten auf der Baustelle stand, hörte L.L. den Klang des Hammers auf dem Amboss und stellte sich vor, wie ein winziger Knochen das nahezu unablässige Geräusch in ihr Mittelohr hämmerte. Sie lauschte angestrengt dem orchestrierten Lärm und versuchte, ihre Schwelle des Unerträglichen zu erreichen. Dabei kannte sie bereits ihre auditiven Grenzen. Die unerträglichen Morgengeräusche brachten Kopf und Augen während der letzten kurzen Schlafphase zum Explodieren. Diesmal, wach und in nachmittäglicher Forscherlaune, erreichte L.L. nur ein gewohntes, harmloses Maß an Irritation.

„Ich bin mehr an dieses Baustellengewirr gewöhnt als an Kirchenglocken oder die Lautsprecher einer Moschee. Und dann auch noch die Sirenen der Rettungswagen! Die scheinen wirklich überall zu sein, wo ich bin …“, grübelte L.L., als sie die Straße weiter entlang ging und ein bekanntes rumänisches Lied über Kräne aus den kommunistischen 1960ern vom Trio Grigoriu pfiff:

Macarale râd în soare argintiiMacarale

Und als die scheinbar ziellos herumwandernde Fußgängerin mit ihrem Lied über silberne Kräne, die in der Sonne lachten, fertig war, fing sie wieder von vorne an, wie ein kaputtes Grammophon, bis sie an einem belebten Platz stehen blieb. Dort wurde L.L.s gedankliche Landschaft von Baustellen mit hart arbeitenden Kränen in einem vormals kommunistischen Land durch das erzählende Flüstern ersetzt, das sie zum ersten Mal an diesem Morgen gehört hatte. Es war wiedergekommen. Der Übergang von einem Ohrwurm zum nächsten verlief sehr zügig. Zunächst hörte sich das Flüstern in L.L.s Kopf wie ein undeutliches Musikstück an, aber als sie weiterging, erzählte das Flüstern getreulich alles nach, was L.L. erlebte.

Ihre Umrisse verschwammen immer weiter in der Ferne, bis sie die Größe eines Bleistifts hatten, der noch ein wenig länger sichtbar hüpfte. Innerhalb der nächsten zwei Minuten verschwanden L.L.s Umrisse vollständig wie in einer Zeitrafferaufnahme. Das einzig Vernünftige, was sie jetzt noch tun konnte, war, den Konturen zu folgen, die das Straßenlabyrinth in L.L.s Gehirn eingeschrieben hatte. Jedes Mal, wenn sie abbog, musste sie unerklärlicherweise über eine weitere rhetorische Frage nachdenken.

Es war, als läge ein wenig blaue Magie in der Luft, aber kein Rauch.

„Neue Geräusche und alte Geräusche mischen sich in den urbanen Schwingungen. Wie könnte jemand darüber, wie sie miteinander verschmelzen und in die Ohren der Menschen gehämmert werden, jemals eine Chronik verfassen?“, fragte sich L.L. „Wo sind diese empfindlichen Wesen, die Jahrhunderte von akustischen Veränderungen in der urbanen Landschaft aufzeichnen könnten? Wer weiß etwas darüber, welchen Einfluss Geräuschveränderungen auf Gefühle, Verletzlichkeit und affektive Mechanismen im Verlauf von Hunderten von Jahren haben? Was hätte ein Elefant über all diese Stadtgeräusche zu sagen? Mit seinen sensiblen Ohren würde der Elefant den empfindlichsten Zuschauer von allen abgeben.“

L.L. ließ diese Fragen eine nach der anderen geräusch- und gedankenlos hinter sich fallen. Als sie den Boden berührten, nahmen die Fragen die physische Form von Kieselsteinen an. Die Kieselsteine wurden ausnahmslos blau. L.L. streifte weiter durch die Straßen und hinterließ eine kaum sichtbare, hellblaue Spur. Dabei gelangte sie zu der vorläufigen Schlussfolgerung, dass der Elefant der ideale Chronist für die affektiven Veränderungen der Menschen wäre.

„Wer sonst könnte sich schließlich derart sensibler Ohren rühmen?“ Das war die letzte Idee, die L.L. noch zu lancieren gelang, bevor die ansteigende Straße abrupt endete. Sie war fast dort, an der östlichen Hüfte der Stadt. War es von Anfang an ihre Absicht gewesen, hier zu landen? L.L. zog es vor, dies nicht zu kommentieren.

Und dennoch muss gesagt werden, dass L.L. in gewisser Weise ihren eigenen Gedankenmustern gefolgt war, um den idealen Chronisten zu finden. Die Muster lenkten ihre Gedanken und ließen sie die Elefantenohren und deren Empfindsamkeit heranzoomen. Ihrem Instinkt folgend, konnte L.L. jedoch nicht anders als sich ernsthaft zu fragen, ob nicht auch die Geographie des Ortes selbst, mit all den Ecken und Kurven, einen bedeutsamen Einfluss auf ihre Gedankengänge während dieses langen Nachmittagsspaziergangs gehabt hatte.

Mit einem Mal öffnete sich der Hügel vor L.L.s Augen zu einem großen, leeren Plateau. Es musste schon recht spät am Nachmittag gewesen sein, als die Sonne ruhig und warm auf L.L.s Schultern gleißte. Hätte sie an exakt diesem Punkt einen Spiegel gehabt, wären ihr vielleicht kleine Punkte aufgefallen, die über ihren Rücken schossen. Aus der Nähe betrachtet, schienen sie fluoreszierende Minishuttles zu sein, die an ihrem Rücken auf und ab rasten und in der fahlen Sonne nur noch stärker glommen. Ein wissender Beobachter würde die Shuttles als Indizien betrachten – genau wie die blauen Kieselsteine. Beides waren Indizien für L.L.s Potential als Psychogeographin. L.L. aber wirkte scheu und abgelenkt. Etwas musste ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, weshalb sie diese Indikatoren ignorierte. Also tat L.L. das, womit sie sich außerhalb der Archive am besten auskannte. Sie vermied es, in selbstanalytische Untiefen abzutauchen und zog es vor, blaue und grüne Oberflächen (ihre liebsten Komfortfarben) zu erkunden. Dieser kluge Zug sicherte ihr einen wohlverdienten Moment der Erleichterung.

In dem Strudel aus Fragmenten, Stimmen und Geräuschen hatte sie sich verloren, auf der Spitze des Hügels fand sich L.L. wieder. Und da ihr Leben keinen Berufsverkehr kannte, ging L.L. müßig herum, gelangweilt wie eine leere Plastiktüte, die sich nur noch in unentschiedenen Halbkreisen drehte. Geometrie lag in Pflanzen, in L.L.s Schritten und auch in ihren Gedanken. Der Nachmittag auf dem Hügel war still, weil das Plateau durch seine Entfernung vom Lärm der Stadt abgeschnitten war, als läge es hinter einem dicken Vorhang. L.L. machte mit ihrem geometrischen Gang weiter, und ihre Schritte trugen sie zum Scheitelpunkt des Plateaus.

Irgendwo im Vordergrund dieser zunehmend surrealen Szenerie bemerkte L.L. einen dunklen Riss – eine kaum sichtbare Linie, die die gigantische Fotocollagenansicht auf die Stadt vom Hügel trennte. Diese Collage, die ausgesprochen lässig am Fuße des Hügels ruhte, war tatsächlich eine maßstabsgetreue Abbildung des Stadtpanoramas. Es war wahrhaft atemberaubend. Verzaubert von dem Simulakrum-Panorama, das sie noch nie zuvor gesehen hatte, entspannte L.L. ihre Glieder auf einer Bank vor der Collage. Die nachmittägliche Stadtansicht schien immer surrealer, wie ein Kunstwerk, das an einer blauen Museumswand hing. Auf den ersten Blick wirkte die Stadt auf L.L. wie ein riesiger Berg aus aufeinandergestapelten Telefonen. Als sie sich die Details genauer ansah, verwischten Rauch und chemische Abgase die Konturen der Stadtsilhouette, und über allem schwebte, wie eine Sprechblase, eine einzelne Geräuschwolke.

Spontan beugte sich L.L. auf der Bank vor, um zu lesen, was in der Sprechblase stand. Aber ihre Bemühungen waren umsonst, weil die Zeichen in der Blase einem fremden Sprachensystem entstammten, das L.L. nicht identifizieren konnte. In genau diesem Moment aber geschah etwas anderes, das beachtenswerter war als L.L.s Interesse an Symbolen. Als sie sich vorbeugte und mit ihrer neugierigen Nasenspitze sanft den blauen Himmel der Panorama-Collage berührte, sich hineinbohrte, heulten Sirenen los, und Teddybären sprangen an Fallschirmen aus kleinen Flugzeugen.

„Teddybären wie Sternschnuppen!“, rief L.L. „Wie kann das sein?“

L.L.s bescheidene Nase war kein Eindringling, also musste alles reiner Zufall gewesen sein. So schnell sie konnte, nahm sie genauestens Notiz von der Ereigniskette, die unter ihren Augen flimmerte, und entfernte sich rasch aus dem Bild.

„Vielleicht ist es eine Warnung“, fasste L.L. vorsichtig und erklärend zusammen.

„Ich werde versuchen, die Bildproportionen beizubehalten und unauffällig zu erforschen.“ Und damit versagte sich L.L. weitere Gedanken zu dem fallschirmspringenden Spielzeug bis zu einem nicht näher festgelegten zukünftigen Moment. Es war typisch für L.L., die sogar das Auspacken von Geschenken so weit aufschob, wie sie konnte. Für sie waren die fallenden Teddybären ein Geschenk, und sie suchte nach einem vertrauten Weg hinunter auf die Erde. L.L. ahnte noch nicht, dass die fallenden Teddybären dieses Nachmittags am Jahresende einen Wendepunkt in ihrem Leben markieren würden … Es war 2012.

Auf dem Weg nach Hause rutschte sie eilig die Telefonberge hinunter und suchte nach alltäglichen Details, Anzeichen von Obsessionen, Verhaltensmustern, gender benders … irgendetwas Wohltuendem, um sich von diesem nahezu unablässigen Flüstern abzulenken, das sie seit dem Morgen in ihrem Hinterkopf hörte. Das Flüstern drückte sich in filmischer Sprache aus, was L.L. hätte freuen können. Aber L.L. blinzelte ganz langsam, wie der Blendenverschluss einer Kamera, so als wollte sie ganz und gar nichts mehr über die doppelten Stimmen ihrer Gedanken hören, und sie neigte ihren Kopf zur Seite.

Was auf ihrem Heimweg folgte, war L.L.s übliches urbanes Ernten, ein selektives Aufnehmen der Stadtbewohner mit ihren grünen Fingerspitzen, lackierten Nägeln, schläfrigen Händen und schwingenden Armen. Dieses visuelle Schneiden und Würfeln war kein Massaker mit spritzendem Blut wie in einem Tarantino-Film. Es ging gar nicht um Gewalt. Es war nur L.L.s Art, urbane Erfahrungen für späteren Gebrauch zu archivieren. Sie hatte ein lebendiges Interesse an der Choreographie alltäglicher Bewegungen und Details, über die sie zufällig stolperte. In ihrem Garten seltener Genüsse flogen Komparationen und Synekdochen wie (Nabokovs) Schmetterlinge herum.

L.L. kopierte behutsam kleine Teile der fliegenden Objekte, die sie auf ihren Spaziergängen sammelte, und fügte sie später in private Unterhaltungen ein. Und da sie sich nun schon in der Nachbarschaft niedergelassen hatte, vergnügten sich L.L. und K., der heimarbeitende Recycler, an manchen Tagen bei einem Glas kalter oder warmer Flüssigkeit in einer benachbarten Bar. L.L. liebte diese Oasen, die von kleinen Häuserblöcken umgeben waren. Als Zugabe servierte der Ort, an dem sich K. und L.L. trafen, schmackhafte Limonade in großen Mengen und konnte einen geräumigen Hinterhof mit einem kleinen Teich voller purpurroter Fische vorweisen. Im Schatten eines geduldigen Baumes vertiefte sich an einem Holztisch für zwei ihre Freundschaft. In der kühlenden Luft solcher Abende nahm L.L. gewöhnlich das vor ihr stehende Glas in die behandschuhte Hand und hielt es eine Weile in brüchiger Balance. Entfernte Beobachter erwarteten einen Trinkspruch, aber die Geste zeigte eher ein Fehlen von Worten an, eine bequeme, einleitende Stummheit, üblicherweise kurzlebig und gefolgt von einer episodischen, leise geäußerten Kette vertraulicher Beschreibungen.

„Der linke Arm einer Frau, der auf höchst bizarre Weise schwang, zog sofort meine Aufmerksamkeit auf sich“, flüsterte L.L., wodurch sie das Aufmerksamkeitsfeld ihres Zuhörers begrenzte. „Ihr rechter Ellenbogen ruhte auf der großen, grünen Ledertasche, die sie etwas höher hielt und auf der Hüfte abstützte. Aber der linke Arm war unerklärlicherweise anziehend, er schwang sanft vor und zurück, fast wie vom Rest des Körpers entfremdet. Er hatte das Aussehen einer abstrakten, glänzenden Skulptur (wie bei einem Objekt von Brâncuși). Seine Bewegung war die eines fliegenden Fischs bei seinem Gleitflug über das Wasser. Es schien wirklich so, als gehöre der Körper nicht zu einem Ganzen zusammen, also sah ich mich verpflichtet, dem Fliegenden-Fisch-Arm in einiger Entfernung zu folgen. Oder vielleicht zog mich auch ein anderer langer, unsichtbarer Arm hinterher.“

Und dann landete das Glas schnell und mit lautem Geräusch auf dem Holztisch.

Stets fasziniert von L.L.s ungewöhnlicher Themenwahl, sprach K. nicht nur auf den übermittelten Inhalt, sondern auch auf die besondere Art, mit der L.L. sprach, gut an. Pausen und Schweigen während der Unterhaltung oder Erzählung waren auf ihre Art fester Bestandteil von L.L.s Sprachcollagen. Sie waren wie Leerzeichen in einem Text. Obwohl L.L.s Kommunikationsstil anderen unbehaglich hätte sein können, ging K. das Schweigen mit nachdenklichem Nicken und Interjektionen an, die man als eine Art aizuchi in Zeitlupe beschreiben könnte. Diese Form der Geduld war alles, was L.L. brauchte.

Mit jeder Obsession, die in einem vertraulichen Tonfall enthüllt wurde, bauten sie eine gemeinsame Fundgrube für Kuriositäten auf. Manchmal verwiesen sie darauf als L.L.K.

Traum 1

„Du magst deine Großmutter, die fast achtzig ist und sich vielleicht nicht einmal mehr an ihren eigenen Geburtstag erinnert. Junge Leute, die zweizehn statt zwölf sagen. Du magst Menschen, die schon lange begraben sind und seit längerer Zeit nicht mehr gesehen wurden. Du vermisst ihre ironischen Zärtlichkeiten und Berührungen. Zu Hause ist, wo du jemanden begraben hast. Und du musst immer zurückgehen, um immer weniger Menschen auf der Himmelseite und immer mehr auf der Erdseite zu zählen.

Es steht alles an der Tür.“

 

In L.L.s Schlafzimmer dringen die auflaufende Flut, ein Requiem und der Geruch des Todes ein.

In L.L.s Traum wird eine ferngesteuerte Kamera von der Decke herabgelassen. Sie gleitet ungehindert durch den Raum. Erst filmt sie einen Sarg, der mitten im Wohnzimmer steht. Ober- und Unterkiefer der Person in dem Sarg werden mit durchsichtigem Klebeband zusammengehalten, damit der Mund nicht offen stehenbleibt. Der Sarg ruht auf einem großen Küchentisch, der ins Wohnzimmer gebracht worden war, um als Stütze zu dienen. Gleich daneben läuft ein Fernseher ohne Ton. Von hinten kann man die Konturen von zwei Personen, die vor dem Fernseher knien, erkennen. Ihre Körper sind zum Teil unter dem Küchentisch und dem Sarg. Aufblitzende Bilder beleuchten hin und wieder ihre Gesichter. Ihre Köpfe sind eng beieinander, sie berühren sich fast. Der Raum ist klein, die Mitte von dem Sarg besetzt, der Rest voll mit alten Möbeln.

L.L. sieht sich selbst im Türrahmen stehen, wie sie die schreckliche Szene beobachtet. Sie ruft wie von Sinnen:

„Macht den Fernseher aus!“

Die beiden tun, was man ihnen sagt.

Die Person in dem Sarg ruht friedlich. Ganz gelb.

Hinter L.L. donnert eine Stimme:

„Schnitt! Und nochmal!“

 

Die Personen in diesem selbstgemachten Film nehmen ihre Plätze ein und mimen Emotionen wie Schauspieler am Set. Es ist L.L.s Vergangenheit, die nachgespielt wird, aber L.L.s Part wird von jemand anderem gespielt. Sie ist gezwungen, sich alles anzusehen, immer und immer wieder.

 

Die Tür schließt sich. Der sich wiederholende, gewaltsame Traum endet.

 

L.L.s Herz sinkt in einen Brunnen, so wie jemand einen Eimer senkt, die Hände um eine rostige Kette geklammert. Sogar im Schlaf kann sie immer noch spüren, wie ein Teil von ihr anfängt, sich unbewusst von der Welt, die sie so vorsichtig bewohnt, zurückzuziehen.

 

Folge 5

Es war einer dieser klaren, warmen Tage, wie sie im späten August oder frühen Oktober vorkommen. Das Licht war diffus und warm. In jeder hellen Stunde warfen die Bäume ihre Schatten sanft in unterschiedlichen Größen an Mauern und Gebäude. Aber die Sonne verschwand hinter dem Horizont, und mit ihr gingen die Schatten aus der Stadt. Zu diesem Zeitpunkt trat L.L. aus dem Archiv. Er hatte einen ungewöhnlichen Buckel, der ihn schwer atmen ließ. Keine drei Sekunden später fuhr ein Fahrradfahrer, der einen schwarzen Rollkoffer links neben sich herzog, eilig an L.L. vorbei. L.L. bemerkte, dass der junge Mann einen Frauenhut in seinem Fahrradkorb hatte. Erschöpft wie er war, hielt L.L. einen Moment lang inne, um sich die Szene anzusehen. Unter seinem faszinierten, hypnotischen Blick verwandelte sich alles in ein Standbild, und sogar das Wiedererzählen dieser Erfahrung musste für einen kurzen Moment unterbrochen werden.

 

L.L. wusste, dass nur ungefähr ein Dutzend Minuten, bevor der Fahrradfahrer vor seiner Nase vorbeigerast war, die Sonne ein wenig höher als die alte Grenze der Erde gestanden und große Giraffen aus den Stadtschatten gemacht hatte. Die goldene Stunde des Tages hatte die Stadt in einen Zoo verwandelt und Fotografen auf die Straßen gelockt, die im warmen Licht rastlos über ihre eigenen Schatten sprangen, auf der Suche nach dem perfekten Bild

„Schreib das auf“, flüsterte L.L., der spürte, dass es dabei um ihn ging. „Für L.L. waren diese Fotografen wie streunende Katzen, die sich zur Sperrstunde, wenn die Essensreste in den Müll geworfen werden, hinter einem Restaurant versammeln.“ Abgesehen von L.L.s Kritik an Fotografen kann man ihm tatsächlich dahingehend zustimmen, dass es genug übrig gebliebenen Fisch in diesen Restaurants gab, um viele Lebewesen damit reichlich und kostenlos zu versorgen.

Um zwei Uhr an diesem zweifelhaften Montag im August oder Oktober hatte L.L. schon lange im Archiv gesessen. An seinem üblichen Tisch lagen zwei Türme bestehend aus Ordnern mit anderer Leute Privatkorrespondenz, gleich neben einem Stapel Zeitungen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Ein dritter Haufen bestand aus einigen Büchern, die auf einem breiten, schwarzen Album lagen – sie alle waren wichtige Bestandteile des gesamten Konstrukts. Nachdem er sich geräuspert und die Nase geputzt hatte, öffnete L.L. mit einem Mal seinen Mund wie ein Fisch, und eine Luftblase kam heraus. Dies war seine goldene Stunde. Die beiden Archivare an der Ausleihe hoben ihre Köpfe und sahen zu ihrem Lieblingsträumer. Ihre Mägen knurrten zeitgleich. Allein durch sein Räuspern gab L.L. ihnen das Gefühl, einem großen Topf Kartoffeln, der auf dem Herd köchelte, ganz nah zu sein. L.L. nutze unverzüglich diesen Moment und sagte in vertraulichem Ton:

„Was ich Ihnen an den folgenden fünf oder sechs Montagen erzählen werde, um uns durch den Winter zu bringen, darf diesen Raum nicht verlassen. Aber keine Bange, es wird kein Märchen wie James Bond sein, auch sollten Sie nicht das Auf und Ab einer dramatischen Struktur erwarten, das Sie mühelos bezaubert. Um ehrlich zu sein, sehe ich meine Mission erst dann als erfüllt an, wenn das, was ich Ihnen zu sagen habe, Sie zum Schnurren bringt. Aber bitte, senken Sie Ihre Erwartungen, oder besser noch – zerstören Sie sie gänzlich!“

L.L. wollte nichts aufzwingen, deshalb nahm er davon Abstand, seine Gedanken weiter auszusprechen, und wartete auf ein zustimmendes Zeichen von den Archivaren. Die beiden nickten schwach und waren eher skeptisch als überzeugt bei dem Gedanken, ihren Erwartungshorizont, der ihnen bisher zur Orientierung gedient hatte, zu zerstören. Von L.L.s merkwürdigem Verhalten fasziniert, hatten die Bürokraten der Vergangenheit die Person vor ihren Augen als Tristram Shandys schüchternen Bruder angesehen, einen Kerl mit weniger Humor aber demselben Hang zu Abschweifungen.

„Die Ereignisse, die uns betreffen“, sagte L.L., „müssen vor einem guten Jahrhundert geschehen sein, ungefähr in den 1890ern, als der Zelluloidstreifen erfunden war und Fotografie sich verbreitete und wachsenden kommerziellen Erfolg hatte. Schon bald wurden die Mechanismen und Techniken, mit denen Bewegtbilder projiziert werden konnten, immer weiter perfektioniert. In der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts verbreiteten sich fabelhafte Projektoren in ganz Europa. Zeitungen in allen Sprachen aus allen Königreichen und Staaten riefen voller Begeisterung örtliche Vorführungen aus und forderten ihre mehrsprachigen Einwohner auf, das neue Wunder mitzuerleben. 1898 konnte jemand aus der transsilvanischen Ortschaft Kronstadt / Brașov / Brassó, der ausreichende Lesekenntnisse und exakt fünf Kronen besaß, um sich die Zeitung zu leisten, über dieses neuartige Spektakel in einem kurzen Artikel lesen. Anschließend konnte er sich ins Publikum setzten, um selbst ein Urteil über die bewegten Bilder zu fällen.“

L.L. zog seinen Stuhl näher an den Tisch und beugte sich über eine der alten Zeitungen. Er übersetzte den Artikel, während er ihn laut den neugierigen Ohren seines geduldigen Publikums vorlas. Seine Stimme bebte mit einem kaum wahrnehmbaren Echo im Raum.

„Die letzten Vorführungen von Edisons kluger Erfindung“, stand in dem Artikel auf Rumänisch, „finden heute, am 9. März, und morgen, am 10. März in der großen Halle des Konzerthauses statt. Wir möchten die Aufmerksamkeit des Publikums auf diese interessanten und lehrreichen Vorführungen lenken. Das Kinetoskop präsentiert Fotos, die vollkommen nach der Natur sind, mit Dutzenden Menschen, die sich mühelos bewegen, als wären sie lebendig. Eine Vorführung zeigt beispielsweise einen Zug, der in einen Bahnhof einfährt; Menschen steigen ein und aus. Schiffe, die in den Hafen einfahren, prächtige Volkstänze, Badende, spielende Kinder usw. Das Grammophon spielt dazu Musik, Lieder und lustige Geschichten, als würde man die Sänger usw. selbst hören. Die Vorführung beginnt um 8 Uhr am Abend.“

L.L. musterte sein gefesseltes Publikum. Die grauhaarigen Archivare erschienen ihm wie Zwillinge: derselbe Haarschnitt, die gleiche dunkle Kleidung, die gleichen Nasen.

„Meine Güte, was für aufreizende Nasen!“, dachte L.L. bei sich, bevor er eilig hinzufügte:

„Aber natürlich konnte nicht jeder diese Zeitung kaufen oder den Artikel selbst lesen. Man beachte, dass am Ende eines Monats voller harter körperlicher Arbeit ein ungelernter Tagelöhner im Osten Ungarns 30 bis 40 Kronen verdiente, was bedeutete, dass seine Lohntüte den Gegenwert von sechs bis acht Zeitungen besaß. Vor allem aber war zu jener Jahrhundertwende ungefähr die Hälfte der Bevölkerung analphabetisch. Besonders Frauen hatten kaum Gelegenheiten, Lesen und Schreiben zu lernen. Ihre Möglichkeiten, einen Beruf zu ergreifen und ein unabhängiges Auskommen zu haben waren ebenfalls extrem gering. Menschliches Potential und Fähigkeiten wurden massiv eingeschränkt.

Als der Habsburger Vorhang sich in der Konzerthalle von Brassó / Kronstadt / Brașov hob, um eine der größten technologischen Errungenschaften des Jahrzehnts zu enthüllen, saßen nur wenige Bewohner der großen Stadtbevölkerung im Publikum, und unter ihnen waren noch weniger, die die Veranstaltung als Mußestunde oder als eine erste direkte Begegnung mit moderner, im Entstehen begriffener Unterhaltung betrachteten. Neugier hatte sie eigentlich dorthin geführt. Oder vielleicht brachte es ihr Status mit sich, sozialen Verpflichtungen wie dem Besuchen wichtiger Veranstaltungen nachzukommen. In dieser kleinen, aber lebhaften Runde, in der unablässig mit den Nachbarn zur Linken und Rechten im Flüsterton bruchstückhaftes Hörensagen über die bevorstehende Vorführung ausgetauscht wurde, saß eine junge Frau von großer Zartheit.

Wir können sie jetzt in diesem spärlich beleuchteten Raum sehen, als würden wir auf eine Röntgenaufnahme schauen: schwarzweiße Schatten, verschwommene Konturen, Knochen und Zähne. Dieses Bild zeigt sehr einfache Striche. Es handelt sich jedoch um ein unverklärtes Porträt von ihr. Wir sehen sie nicht in Öl gemalt in einem goldenen Rahmen an der Wand hängen, im Raum eine Alarmanlage oder ein Temperatur- und Feuchtigkeitssensor in der Ecke. Museumsdirektoren, verstohlene Blicke, Anstarren, das Knarren des Holzbodens, banale Unterhaltungen, die sie unsichtbar machen würden, fehlen vollständig. Die Röntgenaufnahme ist die am wenigsten anachronistische Möglichkeit, sie zu porträtieren. Ihre Name ist E.M., und sie teilt die Empfindsamkeit eines Elefanten, auch wenn sie das noch nicht weiß.

E.M. war allein und wartete in diesem bunten Haufen geduldig darauf, dass die Vorführung begann. Im Tumult des Saals konnte sie es sich leisten, ein paar Nachfragen zum Befinden ihrer Mutter und den Reisen ihres Ehemanns zu ignorieren. Sie sah nur stur auf das Podium, wo der Zeremonienmeister gerade eine kurze Rede über Edisons Erfindung hielt. E.M. hatte einen Blick, der durch alles hindurchzugehen schien. Die Luft war stickig. Die Staubpartikel, die in der großen Konzerthalle herumwirbelten, ließen den Eindruck einer Schneekugel entstehen, in der Menschen mit hohen und runden Hüten aufgeregt umherschauten, wer aus ihren Kreisen noch dort war. Einer der vielen schnauzbärtigen Männer machte einen Witz, der mit dem Erzittern seines großen Bauchs die Staubkugel fröhlich sich selbst schütteln ließ. Von diesem Moment an konnte E.M.s Gedächtnis keine Bewegungen um sie herum mehr aufnehmen.

Die Vorführung begann mit Grammophonmusik, die schwarzen, weißen und rotbraunen Bilder rollten sich schnell nacheinander ab – vielleicht zehn pro Sekunde, vielleicht fünfzig. Im Publikum könnten wir E.M.s Profil leicht erkennen. Ihre Wimpern bilden zwei Halbkreise aus Licht. Sie ist von der Musik und den bewegten Bildern hypnotisiert. Ihre Unterlippe wird nach nur vier oder fünf Minuten, während die eigentliche Vorführung läuft, sichtlich trocken. Die Dauer ist unwichtig, die Gefühle zählen. Nicht der Inhalt ruft ihre Reaktion hervor, denn was sie sieht sind Menschen und Objekte, die ihr keine einheitliche Geschichte erzählen. Ihre vordringlichste Eigenschaft ist, dass sie sich bewegen: Tauben fliegen, Hähne kämpfen, junge Internatsmädchen kämpfen sanft mit Kissen, ein Barbierladen wird von lachenden Männern und Gesprächen über Zeitungen belebt. Manche dieser Episoden schockieren das Publikum: ein Filmkuss. Ein Kuss, den jeder sehen kann, das überrascht sie alle. Was ist die angemessene Reaktion der Öffentlichkeit? Wie sollten sie sich verhalten? Dann erscheint ein fast nackter Mann und lässt seine Muskeln spielen. Das ist der männliche Körper, geformt von den Nationalisten des 19. Jahrhunderts, durch Disziplin und Übung im öffentlichen Raum. Die Verkörperung der Weiblichkeit folgt auf den Fuß: Eine Frau tanzt in einem Kleid mit großen Rüschen.

Manche der aufgenommenen Episoden sind heiter, aber E.M. lacht nicht, auch interessiert sie sich nicht für die Muskeln oder Kurven der abgelichteten Personen. Die neuen Emotionen der kinematographischen Erfahrung lassen ihren Körper erbeben. Ihr Rückgrat und ihre Glieder werden sanft von einem Schauer berührt, einer Welle der Wonne, die ihr Gänsehaut macht. Es fängt an den Armen an, läuft über den Rücken, setzt sich in den Beinen fort, und schließlich spürt ihr Kopf die Wonnewelle vom Nacken in die Stirn kriechen. Sie atmet ganz flach, aus Angst, dieses warme und sinnliche Gefühl zu unterbrechen. Sehen Sie, wäre dort jemand gewesen, um ihre Emotionen zu bezeugen, er oder sie wäre eifersüchtig geworden, und E.M. hätte sich vermutlich geschämt. Aber es war niemand im Konzertsaal, der so reagiert hätte oder mit E.M.s inneren Reaktionen, die sie nicht einmal sich selbst hätte beschreiben können, beschäftig gewesen wäre.

Kaum war die Vorführung vorüber, sprang ein Mann mit einem dichten Bart und einem schwarzen Anzug auf das Podium, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. E.M. sah sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um.

‚Gott ist mein Zeuge’, sagte der bärtige Mann, ‚dass ich niemandem Leid zufügen möchte, aber ich kann nicht anders, als mir zu wünschen, all jene Kirchenvorsänger, die nicht mit Leib und Seele singen, auf einer Wand wie dieser zu sehen.’ Er zeigte mit dem Arm auf die Leinwand und machte eine halbe Drehung. ‚Ich will, dass die ganze Welt sie auslacht und lächerlich macht. Gläubige sollten nicht durch solche faulen Vorsänger von der Kirche ferngehalten werden!’

Stimmen im Publikum gaben im Recht.

‚Es wäre mir bestimmt auch eine große Genugtuung, Trunkenbolde gefilmt zu sehen, mit ihren dummen, vom Alkohol entstellten Gesichtern. Und wenn sie am nächsten Tag aufwachen und sich auf Film sehen, sollten sie solche Abscheu und Scham verspüren, dass sie nie mehr auch nur davon träumen würden, je wieder zu trinken!

Liebe Freunde, Edison ist ein kluger Mann. Seine Erfindung dient der Moral! Es ist an der Zeit, den Menschen zuzurufen und ihnen zu zeigen, wann sie irregeleitet sind. Sie sollten sich bessern! Edisons Erfindung ist keine reine Unterhaltung. Diese Maschine kann ein Mittel zur Erziehung und Besserung sein, weil sie dumme Gesten unsterblich macht, falsche Positionen, misslungene Reden, Grimassen, schlechte Angewohnheiten. Alle Schüler können daraus ihre Lehren ziehen!’

Das Publikum, mittlerweile vertraut mit der grundlegenden Meinung des Sprechers, löste sich langsam auf. Seit Jahren schrieb dieser Mann eine Kolumne in einer kirchlich-politischen Zeitung, in der er seine Ansichten zu Fotografie und Film ausführlich darstellte. Und all seine Argumente plädierten für die Moral seiner eingebildeten Nation.

Sobald die Disziplinarrede vorbei war und die Staubkugel anfing, vor Lachen zu brummen und zu beben, schritt E.M., die Fassung wahrend, durch die Menge. Tief berührt von den Erlebnissen des Abends und der Welle neuer Emotionen achtete E.M. darauf, ihren inneren Zustand von dem sinnlosen Geschwätz der Gesellschaft unberührt zu lassen. Sie stahl sich aus der Tür und eilte über den Marktplatz nach Hause. Die meiste Zeit können wir nur das Geräusch ihrer Schuhe auf dem leeren Platz hören. Ab und zu wirft das schwache Licht eines Fensters ihren Schatten auf den Bürgersteig. Während sich E.M. von uns fortbewegt, wird ihre Silhouette immer kleiner. Das Rot ihres Kleides wird zu einem dunklen Braun und verschwindet vollständig, als sie den kalten Türgriff eines eingeschossigen Gebäudes am anderen Ende des Platzes berührt. Sie muss jetzt alleine sein.“

 

L.L. zog sich mit einer Verbeugung von dem Platz zurück und gewährte E.M. die Privatsphäre und Zeit, die sie brauchte. Ob E.M. wahrhaft ihre Emotionen und ihre neu begonnene Beziehung zum Kino verstand, war eine Frage, die weit außerhalb L.L.s Forschung lag. Und doch würde er immer wieder versuchen, ihr zuzuhören, mit der Sensibilität eines Elefanten.

 

Als er aus dem Archiv gestolpert kam, beschrieb L.L.s Begleitstimme minutiös, wie er seinen Schatten nach Sonnenuntergang auf dem Rücken trug, als handele es sich um einen Affen. Er fühlte sich schwerer als üblich, und deshalb hätte ihn L.L. nur zu gern auf den Boden gelegt, aber allein schon die Sonne erlaubte es nicht. Er kämpfte gegen das Gefühl zu ersticken an und lehnte sich kurz gegen einen Flaggenmast, als der Mann mit dem Fahrrad auf der Fahrradspur an ihm vorbeiraste und den schwarzen Rollkoffer mit der linken Hand rabiat neben sich herzog. Er fuhr so schnell er konnte, als wäre er irgendwo ausgebrochen. L.L. folgte dem Fahrradfahrer mit den Augen und bemerkte einen Strohhut im Fahrradkorb. Interessiert bog L.L. um die Ecke, nur um zu sehen, dass der Fahrradfahrer den Hut verloren hatte. Er lag jetzt zu L.L.s Füßen in einer Parklücke. L.L. hielt inne, analysierte die Situation und musterte die Gegend auf der Suche nach dem Fahrradfahrer. Wenige Sekunden später sah L.L. ihn. Der junge Mann stand wie ein treuer Liebender vor einem Flughafenbus, der mit seiner Liebsten an Bord bereit zur Abfahrt war. L.L. bemerkte, wie der Radfahrer seiner Freundin die Reisesachen überreichte, die er ritterlich transportiert hatte: den schwarzen Koffer, eine Tasche und ein paar weitere Dinge, die von keinem besonderen Interesse waren. L.L. hob den Hut auf und eilte zum Bus, gerade rechtzeitig, um das verlorene Objekt zurückzugeben. Einen Moment lang schien es, er wäre ebenfalls dort, um die junge Frau zu verabschieden: ein Gefühl, in einen Moment gefasst zu sein, in den er nicht gehörte, gefangen in der Verwirrung, Dankbarkeit und Erleichterung des Paares.

Die Zeit der Teddybären
und der Elefanten

Eine Folge düsterer Tage hing über den Einwohnern der Stadt, die ihrem Tagesgeschäft etwas langsamer nachkamen als im September, öfter innehielten, um Atem zu schöpfen, und dem Himmel mit jeder verstreichenden Stunde fragende Blicke zuwarfen. Sie fühlten sich wie unter einem durchsichtigen Deckel gefangen, nicht besser als Ameisen in einer Brotbox aus Kunststoff, die im Gras lag, darüber frische Wäsche auf der Leine, die im Wind flatterte.

L.L. überblickte diese Szenerie vom mittleren Fenster seiner Wohnung aus, mit Blick auf die Zufälle, die auf der Straße geschehen könnten. Dies war ein Beobachtungspunkt, an dem er oft seine Stirn gegen die Kopfschmerzen an das kalte Glas drückte. Die Hälfte des Fensters ließ ihn Passanten auf der Straße vor dem Haus betrachten sowie das Eingangstor, wo er nun den Hausbesitzer ein paar gekochte Kartoffeln verschlingen sah. An Werktagen machte K. immer nur sehr kurze Mittagspausen.

„Ein Kartoffelabhängiger“, sagte L.L. sehr viel lauter als ein Flüstern, mit erkennbar warmer Note. „Das ist K.s einzig vorstellbares Mittagessen. Für ihn müsste selbst eine Pizza aus Kartoffeln sein.“ Keine Antwort folgte auf diese Information, die L.L. hinter sich warf, anscheinend auf der Suche nach einem Gesprächspartner. Das sofortige Ergebnis seiner Sätze war nur das Beschlagen des Fensters um L.L.s Mund.

Vom selben Blickwinkel aus betrachtete L.L. weiterhin müßig Menschen mit Schirmen, die links und rechts die Straße entlanggingen. Autos kamen weniger häufig vorbei, Igel sah man kaum. Und wenn die kleinen Kreaturen in Erscheinung traten, liefen sie über die Straße und wagten sich in die Verstecke im Park auf der Suche nach einem Hibernarium.

„Ganz wie ich“, warf L.L. ein, wie um die Verbindung zwischen den Vergleichsbegriffen zu glätten.

Wenn er in Plauderstimmung war, geschah es häufig, dass L.L. es für nötig befand, einzugreifen, anzupassen und Nuancen in den Passagen, die ihn betrafen, zu verfeinern. Er würde sogar Widerstand leisten, wenn es erforderlich wäre, wenn auch auf unkämpferische Art. Er war geistig hellwach, und doch gab es Gerüchte, L.L. höre Stimmen. Und wenn dem so wäre …

Ein paar Schritte im Nebenzimmer erforderten eine Unterbrechung der Gedanken und Stimmen. Als er die Bewegung hinter sich hörte, wandte L.L. Kopf und Oberkörper zur Tür, seine faltigen, trockenen Hände umklammerten die Heizung, nur um mit der Frage begrüßt zu werden:

„Wo soll ich das hinstellen?“ A. zeigte auf eine kleine, durchsichtige Glasvase, in der eine butterweiße Blume grazil ein paar Mal mit dem Kopf wippte, bevor sie zum Stillstand kam. L.L. nahm die runde Vase aus den Händen seiner Freundin und hob sie über ihre Köpfe ins Licht des Fensters. Ungeduldig rief A.:

„Meine Güte, L.L., schauen wir Marilyn Monroe unter ihr weißes Kleidchen, oder was?“

Er ignorierte A.s Unfähigkeit zu verstehen, blieb ruhig und drehte die Glasvase, um einen fahlen Sonnenstrahl in das Bild zu locken. Die weißen Blütenblätter der Blume wurden unscharf und durchsichtig an den Rändern, wie auf einem doppelbelichteten Foto. Im Hintergrund konnte man nur die verschwommenen Konturen eines dunklen Schornsteins sehen. Das Glas, wie viele andere Objekte in L.L.s privatem Raum, strahlte Wärme aus.

„Danke, das wird meine Ballerina! Ich werde einen Platz für sie finden“, sagte L.L., während er aus dem Zimmer ging, um die helle Blume an den Ort mit dem meisten Sonnenlicht in der Wohnung zu stellen.

Allein in der Küche, begann A. wieder damit, sich über die bürgerlichen Dimensionen von L.L.s Wohnung zu beschweren. Nur dass diesmal ihre Stimme wie Meeresbrandung klang. Je mehr sie sprach, desto zorniger schlugen die Wellen gegen die Wände von L.L.s Zuhause. A. führte Beispiele vom Hunger in Afrika an, verglich L.L.s Wohnung mit einer Favela, missbilligte Ökologen und Bischöfe, die in hochmodernen Autos fuhren, und war schlicht empört und abgestoßen.

L.L., der bequem in seinem Schaukelstuhl saß, versuchte, dem Ausbruch seiner Freundin nichts entgegenzusetzen. Während er A. dabei zusah, wie sie auf den bitteren Boden der Unzufriedenheit, Wut und Hilflosigkeit sank – und sich dabei fast ihr langes, gefärbtes Haar ausriss – nickte er merkwürdigerweise zustimmend. Realismus verwandelte sich unter L.L.s passivem Blick in Melodram.

Angesichts der geraden Linien in L.L.s Gesicht und seinem dauernden Nicken wurde deutlich, dass sein Plan ziemlich einfach war. Sobald A. bei ihrem Schlusswort angelangt war, würde er sie aufbauen, und alles wäre wieder gut. Den Elefanten hätte man im Nu die Treppe hinaufgeschoben. Aber A. wiederholte in ihrer Rede diesmal nicht nur ihre sozialistische Kritik an der Wohnung. Sie ging sehr viel weiter, aber noch immer stieß sie bei L.L. auf taube Ohren, wo ein Ohrwurm von R.E.M. sich eingenistet hatte. Nach gerade einer halben Stunde wütenden Monologisierens hatte A. einen Zustand emotionaler Erschöpfung erreicht, auf den L.L. nicht länger eingehen konnte. Im Allgemeinen hätte er das natürlich gekonnt, aber an diesem Tag kam es L.L. so vor, als stünde er vollkommen unter einem Zauber, der es unmöglich machte, eine Verbindung zu A. herzustellen. Tatsächlich liefen ihre Kommunikationskanäle in den folgenden Wintermonaten immer weiter auseinander, weil jeder der beiden Freunde diese Jahreszeit bei sich in einem anderen Schläfenlappen verortet hatte.

Wie um diese Veränderung schnell zu illustrieren, flüsterte der fremdzüngige L.L. mit tiefer Stimme:

„Meine liebe Freundin, lass mich dir eine sehr kurze Geschichte erzählen, die sich vor nicht mehr als zwei Monaten im Herzen Europas zugetragen hatte. Eine rumänische Freundin von mir saß in einem Zug nach Pontassieve in Italien, als ein Kind zu ihr kam und sie auf Italienisch um Geld bat. Das kommt nicht weiter überraschend für die Bewohner oder Besucher dieses wunderschönen Landes. Meine Freundin, die Kinder mag, genau wie du, begann eine kurze Unterhaltung mit der Bettlerin und fragte:

‚Di dove sei?‘

Das Kind antwortete sofort ( – bitte auf Italienisch hören):

‚Ich komme aus Russland.‘

Meine Freundin stellte ihre Frage noch einmal, diesmal auf Russisch, was sie fließend spricht, aber das Kind schien ihre verkündete Muttersprache in nur einer Sekunde vergessen zu haben. Eher amüsiert als verblüfft startete meine Freundin einen weiteren Angriff, diesmal in einer dritten Sprache:

‚Sag mir die Wahrheit! Du kommst aus Rumänien, richtig?‘

Zu seiner Verteidigung hatte das Kind nicht mehr zu sagen als das:

‚Sie wollen doch nicht, dass ich Rumänien beschäme, oder?‘“

 

Stille.

L.L.–A.: 0–0.

A. hatte L.L.s Geschichte sehr genau zugehört. Danach versank sie in tiefem Schweigen, das nur vom Ticken der Uhr im Raum und dem Atmen der beiden unterbrochen wurde. Obwohl sie enge Freunde waren, fand es A. diesmal schwierig, L.L.s Absichten zu ergründen, nachdem er diese Geschichte erzählt hatte. Eines war von Anfang an klar: Beide waren sich in ihrer Haltung gegenüber Nationalismus einig, und sie wiesen jede seiner Manifestationen zurück. Das galt auch für Patriotismus. Aber nun diese Geschichte über den Patriotismus der kleinen Bettlerin? War das tatsächlich ein opportunistischer Akt? Eine Art Alltagspatriotismus? Die Angst, zurück nach Rumänien geschickt zu werden? Oder ging es um das Annehmen von Identitäten, so wie man sich Socken anzieht? Diese letzte Interpretation, dachte A., wäre die plausibelste. Sie kannte L.L. gut. Und es war noch nicht lange her, dass sie über Menschen gesprochen hatten, die ihren Namen änderten mit der Absicht, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Wie der Politiker in einem Dorf im postkommunistischen Rumänien, der im Rennen um die Bürgermeisterschaft seinen Namen teilweise germanisiert hatte, um von den positiven Vorurteilen der dörflichen Wähler gegenüber den Deutschen zu profitieren. Die Sachsen genossen noch immer einen privilegierten Status in der kollektiven Wahrnehmung der rumänischen Landbevölkerung dieser Gegend. Vor diesem Hintergrund verhalf ihm die freiwillige Germanisierung, zum Bürgermeister des Ortes gewählt zu werden. Als sie darüber sprachen, kamen A. und L.L. zu dem Ergebnis, dass der Bürgermeister sicherlich bereits ein weiteres Stockwerk auf sein Haus gebaut hatte, um den besten Blick über den Ort zu haben.

In jedem Fall, ob nun L.L.s Intervention um Identitätssocken ging oder nicht, stand die Erwähnung der kleinen Bettlerin im Raum. A. hätte L.L. gern nach seinen Ansichten über die Episode mit der rumänischen / manchmal russischen / fast italienischen Bettlerin gefragt, aber sie starrten sich beide nur still an. Je mehr sie verbal kommunizieren wollten, desto schlimmer fühlte sich ihr Speichel wie Klebstoff an. Dies waren die Fakten: fehlerhaftes Zuhören gepaart mit einer zeitweiligen Unfähigkeit zu kommunizieren.

„Das könnte sich alles schlicht durch die Konstellation der Planeten erklären“, versuchte A. vorzuschlagen, durchaus ironisch. Was sie damit meinte, war, dass allein durch das Aufschlagen der Zeitung und Lesen des Horoskops mit seiner magischen Kraft des Erklärens jede Spur der Verwirrung, die diese Szene erzeugte, verschwinden würde. Aber diese absichtlich banale Interpretation der verpfuschten Interaktion zwischen den beiden Charakteren hatte L.L. nicht auf seinem Radar, aus dem einfachen Grund, dass es in seinen Zeitungen aus dem 19. Jahrhundert keine Horoskope gab. Zu der Zeit interessierten sich die Leser mehr für Selbstmorde als für Horoskope. Und weil er seine täglich ansteigende Dosis an Boulevard-Meldungen im Archiv bekam und damit anfing, den Archivaren montags Dokumente zu übersetzen, fühlte sich L.L. mit jedem Tag seltsam unzulänglicher. Er versuchte mit aller Kraft, auch in der Gegenwart verankert zu bleiben, aber Tatsache war, dass er mittlerweile kaum die grundlegendsten Entwicklungen der Gesellschaft, in der er lebte, dechiffrieren konnte, ganz zu schweigen, dass er eine aufschlussreiche Analyse gegenwärtiger Begebenheiten aus dem Hut zaubern konnte. In diesen späten Herbsttagen war es, als hätte sich eine Barriere zwischen die beiden Zeitkategorien Vergangenheit und Nicht-Vergangenheit geschoben, und zum ersten Mal war L.L. irgendwo dazwischen steckengeblieben.

Für A. lagen die Dinge vollkommen anders. Während L.L., ohne es zu wissen, an einer seltsamen Amnesie der Gegenwart litt, seit er die fallschirmspringenden Teddybären mit eigenen Augen gesehen hatte, wurden A.s Sinne mit jedem Tag schärfer. Jede Eilmeldung ließ ihre Sinne explodieren. Wie sie sehr viel später noch klar und deutlich nacherzählen konnte, begann diese Hypersensibilität, nachdem sie in diesem Herbst einen Artikel auf BBC News überflogen hatte: „Die EU tritt am Freitag zu wichtigen Gesprächen bezüglich der diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen Belarus und Schweden zusammen, die auf einen politischen Scherz folgten, an dem Teddybären beteiligt waren.“ Es war nicht mehr als eine aufschlussreiche Meldung über Teddybären, die aus heiterem Himmel mit Fallschirmen abgesprungen waren, und den möglichen Konsequenzen, die dieser politische Schachzug auf die Europäische Union haben könnte. Und doch verschob sich A.s Realitätsspektrum zum Bizarren und Surrealen, seit sie diesen Artikel gelesen hatte. Seit diese Meldung in ihrem Bewusstsein aufgetaucht war, bemerkte A. tatsächlich einen Wendepunkt in ihrem Alltag. Es machte sie rasend.

Genau genommen bedeutete die Unfähigkeit der beiden Freunde, sich bei ihrer Unterhaltung in der Mitte zu treffen, dass sie unter dem Sternzeichen aus dem Himmel fallender Teddybären standen. Während L.L. irgendwo anders war und sich in der sensiblen Zeit der Elefanten verhakte, einer vergangenen Welt von Sensibilitäten, lebte A. vollkommen in der bizarren Zeit der Teddybären. Die Teilung dieser beiden Welten würde bis zu dem Tag dauern, an dem E.M. wieder vor flimmernden Bildern saß.

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Im Archiv fiel ungefiltertes Licht auf die drei Nasen am Tisch und färbte sie blassgelb. Die dazugehörigen Gesichter und Körper blieben in Dunkelheit gehüllt. Nur L.L.s Stimme vibrierte im Lesesaal.

 

„Noch Tage, nachdem E.M. von ihrer filmischen Erfahrung an einem jener frühen Frühlingsabende des Jahres 1898 so berührt war, finden wir sie noch immer verzaubert. Ob im Garten oder auf ihrem Diwan, sie kann ihre täglichen Pflichten nicht mit höchster Konzentration ausüben. Immer wieder erscheinen Fragmente der Aufführung vor ihren Augen und wiederholen sich mit der Beharrlichkeit und Unkontrollierbarkeit von Rückblenden. Egal, was geschieht, sie bleibt vom Kuss, den Kämpfen und den Tänzen hypnotisiert. Aber ob E.M.s Erfahrung eine Ausnahme ist, die andere nicht erleben, lässt sich nicht ohne weiteres überprüfen oder vergleichen. Nichtsdestotrotz kann als sicher gelten, dass E.M.s Erfahrung in einem Leerraum stattfand. Sie erlebte den Film ohne den Druck, mit Emotionen reagieren zu müssen, die als angemessen erachtet wurden, da ihre Gemeinschaft diese Normen noch nicht entwickelt hatte.“

 

L.L. hielt einen Moment inne, um die Aufmerksamkeit der Archivare auf die Tischmitte zu lenken, wo sie sorgfältig einige Zeitungsseiten aus dem 19. Jahrhundert umblätterte, als beriefe sie sich damit auf die Hauptquelle für die gerade getätigte Aussage. In all dem Halbschatten gaben die Seiten sofort einen schweren Geruch frei, der alle Teilnehmer erreichte. Die Archivare konnten kaum noch etwas vernehmen, als L.L. ein paar Worte flüsterte, während sie die Zeitung berührte.

 

„So sensible wie die Haut am Arm“, sagte sie. Es war eine kurze, fast schon private Bemerkung über die ästhetische Erfahrung der Forschung im Archiv. Dann fuhr L.L. entschlossen fort:

„So fern uns dieses Jahrhundert erscheinen mag, E.M.s erste Begegnung mit bewegten Bildern lässt sich wenigstens teilweise in unsere eigenen Erfahrungen übersetzen, weil auch wir unser erstes Mal hatten – als wir als Kleinkind zu Hause auf dem Boden vor dem Fernseher saßen oder uns wie ein Gavroche-artiger Wildfang ins Kino schlichen, um einen Blick auf das leuchtende Wunder in dem dunklen Saal mit vielen leeren Sitzen zu erhaschen. Lag ihre Kindheit nur gut ein Jahrzehnt vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, haben sie auf der östlichen Seite nicht so viele Erinnerungen an Kinofilme, wie dann nach 1989. Ab da nahm ihr junges Gehirn rasch die Form von Turnschuh- oder Jeanswerbung an, gefolgt von vielen anderen Produkten.

Vier oder fünf Generationen davor finden wir E.M. als Kind in den 1870ern, wie sie durch einen üppigen Garten läuft, der an einen riesigen Obstgarten mit Apfel- und Nussbäumen grenzt. Dieser nährende Spielplatz im Herzen von Brașov / Kronstadt / Brassó sollte E.M.s Mitgift bei ihrer Hochzeit sein und später ihr privates Königinnenreich, denn er wurde nie in eine öffentliche Grünanlag wie der am Ende der Straße umgewandelt. Im Jahr 1880 versammelten sich die Leute im Haus Nummer 339, um die Eröffnung der öffentlichen Grünanlage mit Spitzenbier aus Steinbruch und Feldioara, Wein und Absinth zu feiern. Bis E.M. die Pseudobesitzerin des Gartens wurde – oder vielmehr, bis E.M.s Ehemann der neue Besitzer des Gartens wurde – , führten sie ihre Reisen durch die Österreichisch-Ungarische Monarchie. Ihre Ausflüge führten sie oft nach Wien, eines der kaiserlichen Zentren der Doppelmonarchie, wo sie einige Jahre lang Kunst studiert hatte. Ihr kreatives Potential wurde maßgeblich durch die Wiener Moderne des Fin de Siècle geprägt. Sie wurde so sehr von der außergewöhnlichen Leuchtkraft des Modernismus gepackt, dass moderne Kunst ihre Jahre als junge Erwachsene beherrschte – nein, nahezu stahl.

In der Hauptstadt öffnete sich E.M.s Herz auch den wachsenden sozialistischen und feministischen Kämpfen um Emanzipation, deren Anhänger um die Jahrhundertwende begannen, die Parlamente zu stürmen. Sie unterstützte Gleichberechtigung sowohl der Geschlechter als auch der Gesellschaftsschichten, ohne dabei dem einen oder dem anderen Ideal den Vorzug zu geben. Anfangs sprach sie nicht viel über ihre Ideen, aber nachdem sie sich entschieden hatte zu helfen, die Strömung der politisch feministischen Ideen von einer Stadt zur nächsten zu erleichtern, wurde sie immer lauter. Durch ihre Hände gingen Berichte über internationale Konferenzen der Frauenbewegungen in Österreich-Ungarn, die sie sorgfältig abschrieb und mit den wenigen, die etwas bewegen konnten, teilte.

Als sie den Platz am Abend des 10. März 1898 überquerte und ihre neuen, erschütterten Emotionen behutsam mit sich trug, als müsse sie sie irgendwo in Sicherheit bringen, dachte E.M. als wohlmeinende Sammlerin von Informationen hauptsächlich über internationale Frauenorganisationen nach. Aufgrund staatlicher Zensur und Gesetzen, die Frauen verbaten, politische Vereinigungen in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zu gründen, musste diese sensible Angelegenheit mit Diskretion, Mut und Weisheit durchgeführt werden. Und E.M. erwies sich als genau die richtige Person dafür. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg schaffte sie es, feministische Kommunikationskanäle durch Europa zu steuern und zu nutzen.

Ihr Ehemann hatte sie gelegentlich nach den geheimnisvoll langen Stunden gefragt, die sie bis spät in die Nacht hinein über Papiere gebeugt verbrachte, Texte abschrieb und übersetzte. Manchmal interessierte ihn ein Stapel mit Papieren, die sie ständig mit sich durchs Haus trug, aber er hatte sich an die Mauer, mit der sie sich umgab, gewöhnt. E.M.s Antworten auf seine Fragen ritzten systematisch zwei Worte in die Mauer zwischen den beiden: ‚nur Übersetzungen‘. Da er keine bessere Erklärung hatte, ging er davon aus, dass sie ihre Angelegenheiten hütete, so wie er die seinen. So lange die Eintönigkeit ihrer langen Ehe fortbestand, gab es keinen Grund, die Mauer zu zerschlagen. Tatsache war, dass die beiden ihren Frieden miteinander hatten.

Man muss dazu sagen, dass E.M. einen orthodoxen Kaufmann vom Balkan geheiratet hatte, der mit gesalzenem Fisch, Fellen, Wolle und Wachs handelte und dessen Reisen ihn zum größten Teil des Jahres zwischen dem Schwarzen Meer und Triest festhielten. Als sich die Märkte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu weiter entfernten Orten öffneten, litt der Handel in Brassó / Kronstadt / Brașov darunter. Noch ein Jahrhundert zuvor hatte es ein weit offenes Handelstor zur Levante und zurück zum Habsburger Reich gegeben, doch nun wurden die Türen fest von einer wachsenden Zahl gieriger Hände geschlossen. In den späten 1890er Jahren musste E.M.s Ehemann Umwege von mehreren tausend Kilometern machen, um zu verhindern, dass sich ihr Vermögen in alle vier Himmelsrichtungen verteilte. Der Handel wurde auf die Schienen verlegt, und Schiffe erhöhten den Handelsverkehr auf der Donau. In direkter Folge verringerten sich Entfernungen, und der Warenfluss veränderte sich. Beschwerliche Zollbestimmungen zwischen dem ungarischen Teil der Doppelmonarchie und dem rumänischen Königreich verschlechterten die wirtschaftliche Situation der Region nur weiter und schwächten Brașov / Kronstadt / Brassós Mittelschicht. Während dieser vielen Veränderungen kämpfte E.M.s Ehemann darum, mit dem technologischen Fortschritt Schritt zu zuhalten. Aber er hatte einen guten Riecher für die Möglichkeiten, die sie brachten oder nahmen, und sein Erfolg maß sich an den Zahlen unter dem Strich, den er am Ende jedes Monats zog. Verglichen mit vielen anderen schnitt er gut ab. Und er fuhr damit fort, die örtliche Gemeinde großzügig mit hunderten Florinen zu unterstützen, wann immer er in die Stadt zurückkehrte. Schließlich waren die orthodoxen Kaufleute vom Balkan seit Alters für ihre Menschenfreundlichkeit bekannt, und E.M.s Ehemann fühlte sich eng mit der Vergangenheit verbunden. Je mehr sich die Gesellschaft änderte, desto stärker klammerte er sich tatsächlich an seine orthodoxen religiösen Wurzeln.

Während seiner kurzen Aufenthalte zu Hause sah E.M. nicht viel von ihm. Er teilte seine Zeit auf zwischen dem Club der Gewerbetreibenden, einer exklusiven Einrichtung, in der sich Geschäftsmänner versammelten, um Billard zu spielen und bei einer Tasse türkischen Kaffees und Süßigkeiten über Geschäfte zu reden, und der Kirche, wo er über Politik sprach und sicherstellte, dass er in den Angelegenheiten der Gemeinde noch mitzureden hatte. In diesen Schlüsselpositionen schufen Menschen von bestimmtem Status die symbolische Struktur ihrer Gemeinden und webten Seidenfäden wie Spinnen es tun, um ihre Netze zu bauen. Sie waren die großen, kleinen und oftmals langweiligen Erfinder der Nationen. Sie erfanden Traditionen, nationale Tänze und all die Paraphernalien, die zu einer Nation gehören. Heute gibt es Statuen von den meisten Nationalisten der alten Garde auf öffentlichen Plätzen, und dort treffen sich Menschen – bei dieser oder jener Statue. Weniger Nationalismus würde allen gut tun.“

Als L.L. diesen letzten Satz betonte, klang ihre Stimme, als hätte sie den falschen Gang eingelegt. Ein Synchronisationsproblem, sozusagen, das sich aus ihrem wachsenden Ärger ergab, den sie dem Nationalismus gegenüber verspürte. Das führte zu einer zeitweisen Unterbrechung, die es den Archivaren, die L.L. gegenübersaßen, erlaubte, mit einem Fragment persönlicher Erinnerung hineinzuschießen. Mit fröhlicher Stimme führte die grauhaarige Frau die erste Werbung, die sie nach 1989 im Fernsehen gesehen hatte, an.

„Es ging um Kent“, verkündete sie triumphierend, „die Zigaretten, die das beste Geschenk waren, um Ärzte zu Beginn der postkommunistischen Zeiten zu bestechen! Und natürlich begann die Werbung, die ich unglücklicherweise immer noch nahezu kristallklar im Kopf habe, mit einer Handvoll weißer Geschäftsmänner – vielleicht waren auch Frauen dabei, mein Gedächtnis lässt mich hier im Stich – , die Büros in einem Wolkenkratzer hatten. Der erste Zug, den sie inhalierten, trug sie wie in einem Traum durch die Fenster des Wolkenkratzers und direkt auf eine Jacht, wo sie sofort von weißen Frauen in Bikinis umgeben waren. Sonne und Cocktails!“

„Nicht mehr und nicht weniger als das stereotype kapitalistische Paradies!“, erwiderte L.L. mit ironischem Lächeln.

„Ja, und wahrscheinlich auch noch ein Steuerparadies“, fügte der zweite Archivar, ein Mann von deutlich fortgeschrittenem Alter, hinzu.

Und aufgrund der bissigen Bemerkungen der Archivare fühlte sich L.L. ihnen unerwartet ein gutes Stück näher. Sie schweiften noch ein wenig länger ab, diskutierten Mad Men und entwarfen eine mögliche Geschichte von Emotionen und Marketing im 20. Jahrhundert. Würden die Archivbestände ein solches Unterfangen stützen? Welche Quellen wären auf der Stelle verfügbar? L.L.s Augen glänzten vor Freude und Neugier. Auch die Archivare waren von alledem recht begeistert, aber L.L. versuchte, wieder zu ihrem ursprünglichen Thema zurückzukehren, hatte sie sich doch etwas unwohl gefühlt mit der Konsumwendung und dem Umweg über Zigarettenzirkulation auf den östlichen Schwarzmärkten. Sie hatte Angst, ihre Geschichte könnte durch die Abschweifungen gekapert werden. Also beeilte sich L.L., ihrem Publikum klar zu machen, sie sollten nicht von ihr erwarten, zu lange bei den Machenschaften der Nationalisten des 19. Jahrhunderts zu bleiben. Das war nicht ihr Lieblingsthema. Ihre Absicht war lediglich, ihr gefesseltes Publikum vom Lehrbuchnationalismus frei zu machen, was sie wenigstens ab und zu für eine gesunde geistige Übung hielt. Aber als sie gestand, dass sie mit jeder Person, die den Club der Nationalisten verließ, Mauern einstürzen hörte, erkannte L.L. mit einem Mal, dass sie einen Nerv getroffen hatte. Ihre Haltung zum Nationalismus hatte sie schon vor langer Zeit klargemacht, aber verlangte sie zu viel von den Archivaren? In einem verspäteten Moment aus Sorge und Zweifeln fragte sich L.L., ob sie nicht gerade an genau dem Ast sägte, auf dem sie saß …

L.L. drehte vor einem weiteren abschweifenden Wirbel ab und entfaltete die Unterhaltung neu.

 

„E.M. lebte in einem nationalistischen Nest. Die Welt war zur Jahrhundertwende voll davon. Seither wurden viele Bücher über sie geschrieben, aber keines über E.M. und welche Meinung sie zu den bemerkenswerten Veränderungen hatte. Der Abend bei den lebenden Bildern, eine erleuchtende Entdeckung, die sie lange Zeit mit niemandem teilte, bildete den Anfang. Genau da wurde sich E.M. anderer Sinne und Emotionen bewusst, Indikatoren der Komplexität der Gefühle. Aber wer könnte eine solche Geschichte erzählen? Und sollte sie ‚E.M.s Offenbarung‘ heißen? Kann tatsächlich jemand eine analytische Geschichte der Gefühle schreiben? Braucht man die Ohren eines Elefanten, um E.M.s intuitive Suche nach Emotionen hören und fühlen zu können? Mit wem konnte sie sie teilen?“

 

Mit diesen abschließenden Worten legte L.L. die staubigen Zeitungsseiten zusammen und ertappte sich dabei, wie sie die brüchige Balance an der Grenze zwischen Geschichte und Literatur hielt.

Währenddessen, ungefähr zur selben Elefantenzeit, entzündete E.M. ein rotes Phosphorstreichholz und wartete auf dem Diwan mit einem Stapel Papieren und Büchern.

Das mittlere Ende

Vor allem von den Fenstern ihrer Wohnung aus beobachtete L.L. sorgfältig, wie September und Oktober nach und nach in mikroskopische Staubpartikel zerfielen. Sobald das Herbstlaub die Straße mit dichter Melancholie bedeckte, kamen fleißige Bürger aus ihren Häusern, kehrten das Laub zusammen und warfen es weg. Melancholie war nur gelber Abfall.

 

Nachdem diese zwei durchschnittlichen Herbstmonate vorüber waren, begann L.L. in ihrer Wohnung auf- und abzuschreiten, wie ein Metronom, und zeigte eine stillschweigend ansteigende Unruhe, die so gar nicht zu ihrem üblichen Herbstbenehmen passte, ganz egal, wo sie sich auf ihrer Archivlandkarte befand. Nun, Anfang November und mit einem Hauch Winter, fühlte sie sich wie auf glühenden Kohlen.

Normalerweise entfaltete sich L.L.s Zeit ohne präzisen Plan. Manche Aktivitäten wiederholten sich wie ihr Name, manche waren verwässert wie typisch amerikanischer Kaffee, während andere in unverdaulichen Brocken kamen. Und wenn diese ganzen alltäglichen Zeitblöcke systematisch einer auf den anderen gestapelt waren, leuchteten die Langeweileziegel wie Gold. Wenn jemand sich die Mühe machen würde, sorgfältig über L.L.s reguläres Herbstleben nachzudenken, erschienen ihre Tage wie ein melancholischer Gobelin mit goldenen Streifen.

Während dieses Herbsts im Jahr 2012 mit den fallenden Teddybären erlebte L.L. etwas seltener lichte Momente der Langeweile als sonst. Glücklicherweise spielte L.L. in einem von ihnen mit der Idee, sich einen Hund anzuschaffen. Und kaum dass die Perspektive eines zukünftigen treuen Begleiters in ihrem Kopf aufgetaucht war, fand sie auch schon einen Namen für das Tier – I. – , was ihr Trost gab.

„Wenigstens ein Hundename, wenn schon kein Hund“, sagte L.L. und ging öfter mit dem Namen spazieren – L.L. und I. Das beruhigte sie.

 

Von dort, wo sie ausgestreckt auf einem Teppich im Wohnzimmer lag, hob L.L. ihren Blick und erhob ohne Vorwarnung Anspruch auf den vorherigen Satz:

„Ich möchte erklären, dass es eine notwenige Übung in Selbsttäuschung war … eine Übung!“, wiederholte sie schwach, ihre Lippen nahezu farblos. Dann, nach einer kurzen Pause, nickte sie und sagte:

„Na los, mach weiter, ich höre sehr genau zu.“

 

Je kälter und dunkler es im Jahr wurde, geprägt von dem trügerischen Versprechen einer süßen, weißen Hinterhofszenerie, desto weniger wurden L.L. diese Momente freier Langeweile gewährt. Stattdessen hallten Zehntausende Gedanken und tote Gefühle in ihr leer wider und verkündeten die Annäherung des ungezähmten Winters, den sie immer gekannt hatte. Die Stimme in L.L.s Hinterkopf verstärkte und wiederholte all diese beängstigenden Vorstellungen, wie ein Looper mit einem Mikrophon. Und aufgrund dieser sich verschlimmernden Angst streifte L.L. weniger häufig durch die Stadt, und sogar ihre Treffen mit K. erlitten dasselbe Schicksal. Nur das Archiv konnte sie gelegentlich etwas aufmuntern.

Tag für Tag konnte L.L. die quälenden Gedanken nicht davon abbringen, in ihre Wohnung zu galoppieren. Von allen Menschen in ihrem Umfeld wusste nur A. in vollem Ausmaß, was zu erwarten war, weil sie schon gesehen hatte, wie sich L.L.s Ängste im Winter in ein wildes Tier verwandelten: eine Hyäne, die alle Gefühle verschlang, die sie in L.L.s innerlich totem Körper fand. Zu einer der schlimmsten Zeiten des Winters hatte A. beobachtet, wie L.L.s Ängste so intensiv geworden waren, dass L.L. gezwungen war, sich tief in das Reich des Wahnsinns zurückzuziehen. Dort musste L.L. nur noch sich selbst fürchten. Nicht den Tod, nicht die anderen Menschen, nur sich selbst.

Als sich die immer weiter ansteigende Kälte nicht mehr aufhalten ließ, konnte sich L.L. entfernt an diesen süßen Winterwiderspruch vom Herbstanfang erinnern, der mittlerweile so bedeutungslos geworden war wie ein vergessener Handschuh auf der Straße.

 

Wenn sie damals nur schon gewusst hätte, dass sie am Ende des Winters die Insel finden würde, auf der sich abgestürzte Wolken in Schafe verwandeln. Vielleicht hätte sie dann die Kraft gefunden, den Winter mit derselben physischen und mentalen Leistungsfähigkeit durchzustehen, mit der ein Student sich die Nacht um die Ohren schlug.

Als sie vom Ende des Winters erfuhr, kauerte sich L.L. enger an die Wand, die sich für sie angenehm warm anfühlte, wie ein heilender Ziegelstein, der gerade aus dem Ofen kam. Ihre geblendeten Augen öffneten sich weit, und die Pupillen weiteten sich trotz der Lichtstärke des Raums. Schmale bunte Ringe umkreisten immer wieder L.L.s dunkle Pupillen, wo Möbelstücke und ein Gemälde des alten Königs Fu ihre verzerrte Reflexion fanden.

Es geschah also, dass die gegenwärtigen Ängste vor dem Winter zeitweise aussetzten, sobald die Idee eines Zukunftsszenarios auftauchte, als wäre sie auf die Wohnzimmerwand projiziert worden. Mit höchster Aufmerksamkeit lauschte L.L. der vorhersagenden Stimme.

 

So könnte es enden.

Sobald der Winter vorbei ist, wird L.L. in den frühen Frühlingstagen, wenn bestimmte Krokussorten blühen, wie von einem Magneten angezogen eine ungeplante Reise antreten. Schließlich hat sie sich immer zugestanden, durch die Gegend zu reisen, ohne einer logischen Erklärung zu folgen. Bei diesem spontanen Ausflug geht L.L. direkt vom Archiv zum Bahnhof, und dann immer weiter weg. Sie überquert Europas mittlerweile unsichtbare Grenzen, als würde sie an Apfelbäumen vorbeifahren, ohne Zögern, bei legaler Höchstgeschwindigkeit in einem Mietwagen die Straßen entlang, die zum Meer führen. Wenn die Sonne am blassesten steht, biegt sie einmal rechts ab, und dann noch einmal, um eine bröckelnde Verbindungsstraße zwischen dem Festland und einer ehemaligen Insel zu nehmen. Hinter dem rasenden Auto bleibt die größte und nächste Stadt zurück. Bald verschwinden ihre grauen Umrisse vollständig aus dem Rückspiegel. Die Landschaft vor ihr wird reicher an blauen und grünen Schattierungen. Cremeweiße Punkte fressen müßig aus diesem lebendigen Bild und verwandeln sich in L.L.s Hinterkopf in schwangere Schafe.

Der Tag ist alt genug.

Ein weißer, furchtloser Zaun läuft parallel zu dem rasenden Auto. Zur Linken bewegt sich die Küste langsam in der Ferne. Gut abgegrenzt und geschützt beherbergt sie Vogelscharen mit müden Flügeln, die darauf warten, dass das Meer ihnen frischen Fisch serviert. Die Flut kommt herein, und die Schiffe mit ihren ausgebreiteten Fangnetzen fahren in das offene Gewässer. Weiße Vögel ziehen ihnen nach. Es ist das Gebiet einer ehemaligen Insel, die nun mit Plastiknetzen geflickt ist, die verhindern sollen, dass das Erdreich vom Meer weggespült wird. Jeden Tag erlauben ein paar Schleusen dem Ozean, einige Stunden friedlich an das Innerste der ehemaligen Insel zu reichen und es mit einer Art Fischsuppe zu füllen. Die kilometerlangen Deiche um sie herum lassen sie wie einen riesigen Teller aussehen. Auf diesen Steinhaufen sieht L.L. Familien stetig mit dem Wind marschieren, die Erwachsenen tragen stolz schwere Kameras um den Hals. Vor den Eltern rennen Kinder mit imaginärem Pfeil und Bogen. Sie treiben direkt auf eine Gruppe älterer Damen zu, die entschlossen gegen den Wind marschieren, jede bewaffnet mit zwei Schirmen, die als Gehstöcke dienen.

L.L. ist pünktlich.

Von hinten scheint sie ein Autopilot am Steuer zu sein. Je mehr sie in den Rhythmus der Landschaft eintaucht, desto mehr fühlt sie sich wie eine Krabbe, die von der Flut an die Küste gebracht wurde. Ein aufmerksamer Betrachter kann sehen, wie L.L. langsam in ein grünes und blaues Leben zurückkehrt und ihre Winterstarre hinter sich lässt. Über der Straße fliegen Wolken in geometrischen Formen an L.L.s durchdringendem Blick vorbei. Nach der nächsten Kurve gibt L.L. Gas, als hätte sie es eilig, die Tagesreise zu beenden. Sie parkt den Mietwagen auf dem Feld, und eine Abkürzung bringt sie an die Küste. L.L. verankert ihre Füße drei Meter vor der Küste und spürt, wie das kalte Wasser ihre Knöchel erreicht. Ihre Augen öffnen sich zum Meer. Dort draußen scheint nichts zu sein außer dunkelgrünem Wasser. Und als die Wellen stetig ans Ufer rauschen, auf ihre Wimpern zu, fühlt sich die Erde kleiner und runder an. Hinter L.L. vergrößert sich die Entfernung zur Küste stetig, und sie kann sich jetzt einreden, dass sie mitten im ruhigen Meer steht. Nur von dort kann sie die unglaublich schnellen Luftströme über ihrem Kopf beobachten.

Und dann passiert es auch: Ein Punkt am Himmel zerplatzt in rotes und gelbes Licht, und der Himmel zerspringt wie eine reife Wassermelone. Um diesen Punkt herum versammeln sich eilig einige Wolken und greifen sich gegenseitig an wie Drachen. Die wenigen Kessel des verbleibenden blauen Himmels bewegen sich schnell und suchen woanders einen friedlicheren Ort. In der neuen Mischung aus Himmel und Wasser steht L.L. verzückt und beobachtet diese Veränderung mit ihren weitwinkligen Augen. Nach dem Drachenkampf fahren die Wolkengewinner mit ihrer mobilen Überwachung von oben fort, während die Verlierer durch den gelb-roten Punkt fallen und auf die Deiche oder ins Wasser stürzen. In ihrem Sturz, der nur einen Wimpernschlag andauert, verwandeln sich die Wolken in Schafe, die Ebbe und Flut des Meeres sicher weiter den Deich hinauf und ins Innere der Insel bringen. Von dort aus können sich die Schafswolken nur laut beschweren, indem sie sich in regelmäßigen Abständen gegenseitig Silben in den Wind werfen. Aber all das ist vergebens, denn die Verwandlung lässt sich nicht rückgängig machen: Die Stelle am Himmel schließt sich bald mit rußigem Leuchten. Bei ihrem Sturz auf die Erde behalten die meisten Wolken eine cremeweiße Farbe, ein paar andere entwickeln einen langen Schwanz, wieder andere tragen rote Streifen auf ihren Rücken. Sie alle sind nummeriert mit blauer oder dunkelroter Farbe, die ihren sterblichen Zustand besiegelt.

L.L. setzt sich leise an den Rand dieses riesigen Schilds, um seine seltsamen Ebben und Fluten besser beobachten zu können. So wie andere Vögel beobachten, ist L.L. dabei, eine eifrige Betrachterin der subtileren Phänomene zu werden, bei denen es um Wolken und Schafe geht. Wolken, begreift sie, darf man nicht unterschätzen. Wenn sie sich langweilen, ziehen sie eine ernste Nummer ab, mit tiefgreifenden Konsequenzen, denn sobald eine gestürzte Wolke das grüne Gras berührt hat, gibt es keinen Weg zurück.

 

Am Ende des Wintertunnels würde L.L., von einer ihrer schützenden fiktiven Seifenblasen umhüllt, einen ungewöhnlichen Ort zum Erforschen finden. Das war die Wahrsagung, eine sichere Oase für sie. Aber selbst wenn sie mit geweiteten Pupillen dem Szenario dieser Erzählstimme lauschte, wollte sie sich immer noch nicht ganz auf die vorgeschlagene Auflösung verlassen. Ihr Beitrag war bis dahin zu klein gewesen: Von Anfang an hatte sie sich gewünscht, der Kapitän im Ruhestand von alledem zu sein. Eine kunstlose Prolepsis oder eine Wahrsagung, egal wie man es auch nennen wollte – sogar ein Schlaflied – , es machte für sie keinen Unterschied, weil sie spürte, dass etwas fehlte: ihre eigene Note, ihre Entscheidung, oder wenigstens eine gewisse Übereinstimmung.

Trotz all dieser Kritik, die L.L. nun aufrecht sitzend mit dem Rücken an der Wand sanft formulierte, blieb L.L. letzten Endes geduldig, nickte mit einer gewissen Zufriedenheit und Weisheit, als wolle sie sagen, dass es immer andere Wege gäbe, die Welt wahrzunehmen, über sie zu sprechen und auf ihr zu sein. L.L. war schließlich nicht so unvernünftig.

Episode 9

„An einem dieser Tage oder Monate um 1900 herum, dessen trübsinniges Datum so schwierig wie unnütz zu identifizieren ist, kam E.M. mit zwei schweren Taschen nach Hause in eine rege Küche. Eine Tasche war voller Rote Bete, die andere voller grüner Walnüsse aus ihrem großen Obstgarten. Sie stellte sie vorsichtig auf den Holztisch und schob sie fast unmerklich in die Richtung ihrer Mutter, die unruhig in einer Ecke werkelte. Obwohl sie eine kranke, alte Frau war, hörte ihre Mutter nie damit auf, Arbeiten im Haus zu erledigen. Wenn sie ohnehin schon sterben musste, wollte sie wenigstens sterben, während sie etwas Nützliches tat.

‚Zu viele Menschen sterben sowieso schon in ihren eigenen Betten‘, hatte sie endgültig auf E.M.s letztes Nörgeln erwidert. Und jedes einzelne Bisschen, das ihre Mutter machte, hinterließ den Eindruck, dass sie mit den Füßen zuerst aus der Küche gebracht werden wollte – in einem Sarg. Seit Mutter und Tochter diesen Punkt geklärt hatten, kamen sie besser miteinander zurecht: Die eine kochte, und die andere notierte die Rezepte ihrer Mutter. Zwischen diesen Aktivitäten brach selten Spannung aus.

Auf dem Tisch lag neben den Taschen ein graues Papier, auf dem E.M. bereits Ideen für ein neues Projekt notiert hatte: eine Einführung in die süßen Freuden der regionalen Küche – șerbet, rahat, halva und dulceață. Es war der Wunsch ihrer Mutter, all diese Rezepte in Ordnung zu haben, bevor sie starb. Also gingen beide systematisch vor und zeichneten den kulinarischen Geschmack ihrer Familie auf. E.M. sagte gern, dass sie von den Geschmacksnerven und Leckermäulern aller Kolonialisten, Kaufleute, Migranten, Grenzbeamten und Bauern durch die Generationen berichteten. E.M. hatte jedoch noch eine andere Absicht: Sie hoffte, das Leben ihrer Mutter mit jedem Rezept, das sie in der Küche nachkochte, zu verlängern.

Ungefähr fünfzehn Jahre später würde es nur noch E.M. sein, die einige dieser Rezepte gedruckt sah. Die österreichische Frauen-Rundschau veröffentlichte einen Artikel mit einer Überschrift, die E.M. gar nicht gefiel: ‚Vom Speisezettel des Orients‘. Durch eine komplizierte und ziemlich unglückliche Verkettung der Umstände konnte E.M. nur wenig tun, um diesen Titel zu korrigieren, von dem sie wusste, dass er das stereotype Gleichgewicht zwischen West und Ost, zwischen zivilisiert und barbarisch abbildete. Es war ein symbolisches Spiel mit Stereotypen und Selbstwahrnehmungen, dem sie nicht entkommen konnte. Während ihres gesamten Lebens hatte E.M. immer dagegen angekämpft, aber ohne ermutigende Ergebnisse. Jedenfalls erschien der Artikel in dem Abschnitt ‚Für die Hausfrau‘, und er weckte die Neugier einiger Damen. Mehrere Briefe folgten, Besuche wurden genauestens abgesprochen, und ein ‚Gesegnete Mahlzeit‘ wärmte die Mahlzeiten, die sie gemeinsam in Brassó / Kronstadt / Brașov einnahmen. E.M. hatte einen angeborenen Sinn für Gastfreundschaft, so wie die meisten Menschen in ihrer Region.

Aber ihre Mutter würde diese Ereignisse nie miterleben. Nach einem Dutzend Minuten Stille sagte E.M. so überzeugend, wie sie konnte:

‚Mutter, deine Finger werden doch wieder schwarz. Lass mich dir bitte mit den Walnüssen helfen.‘ Die dunklen Ringe um die Augen ihrer Mutter ergaben einen scharfen Kontrast zu ihrer weißen Bluse. Sie sah nicht gut aus. Auch schien sie diesen Berg Walnüsse nicht alleine bewältigen zu können. Die Tasche, die E.M. gerade hereingebracht hatte, war voll mit hellgrünen Kugeln – weiche Nüsse, deren innere braune Schalen noch nicht fest waren. Die erste Aufgabe bestand darin, ein dreidimensionales Sechseck in die Schichten aus Schale und fleischiger Hülle zu schnitzen, eine Operation, die jeden Finger grün, dann schwarz werden ließ.

‚Kleines Mädchen, es gibt nichts, wobei du mir helfen kannst. Ich habe alles, was ich für die Konfitüre brauche. Mach weiter und kümmere dich um deine Papiere. Ich rufe dich, wenn ich fertig bin.‘

Als E.M. die Tür auf Wunsch ihrer Mutter öffnete, wurde ihr Gehen durch einen weiteren Wunsch unterbrochen.

‚Und bitte, nimm diese Vase mit! Hier drin wird es zu heiß werden, sobald ich den Herd anmache.‘

Hinter E.M. und der empfindlichen Blume schloss sich die Tür mit einem endgültigen Quietschen. Nachdem sie aus der Küche entlassen war, blieb E.M. mit einem flackernden Déjà-vu zurück, das zu ihrer Enttäuschung viel zu schnell wieder verschwand und fort war, bevor sie auch nur versuchen konnte, es ganz aufzunehmen, so beschäftigt wie sie damit war, einen Platz für die Vase zu finden. Nun gab es wirklich nichts mehr für sie in der Küche zu tun, während sie darauf wartete, dass ihre Mutter die exquisite Konfitüre aus grünen Walnüssen herstellte.

E.M. wusste, dass ihre Mutter alles, was sie schrieb und zeichnete, verehrte, als handele es sich um religiöse Objekte, und dass die Konfitüre nur ein Zeichen der Verehrung ihrer Mutter für sie war. Hätte E.M. mehr in der Küche tun können? Das Säubern und Vorbereiten der Walnüsse war mühsam und sie hätte gern geholfen, aber je mehr sie versuchte, sich gegen die Wünsche ihrer Mutter zu stellen, desto schlechter wurde deren Gesundheit.

Eine Spur von schlechtem Gewissen, weil sie nicht darauf bestanden hatte, in der Küche zu helfen, folgte E.M. in das nächste Zimmer und umkreiste sie wie eine einsame Katze.

‚Wenn das schlechte Gewissen nur so zärtlich sein könnte …‘, dachte sie.

E.M. und die unsichtbare Katze rollten sich gemeinsam auf dem Diwan zusammen, umgeben von einem Halbkreis aus Briefen, Büchern, Broschüren und Zeitungen. Zu E.M.s linker Seite, auf dem ersten Stapel, lag eine blaue Broschüre auf Deutsch, die ausführlich von dem Internationalen Frauenkongress 1899 in London berichtete. E.M. nahm das neu angeschaffte Objekt, blätterte es mit glühendem Gesicht durch und legte es wieder zur Seite, bis es an der Reihe war, übersetzt zu werden. Methodisch legte sie die Papiere um sich herum sogar noch weiter aus, öffnete die Revue de Morale Sociale und bereitete ein Blatt Papier vor, auf dem sie einen Artikel von Marianne Hainisch abschreiben würde. In diesem Text berichtete die feministische Anführerin ausführlich über die Frauenbewegung in Österreich, wofür sich E.M. sehr interessierte. Bevor sie mit ihrem sensiblen Geschäft dort weitermachte, wo sie aufgehört hatte, beugte sich E.M. über einen kleinen Tisch, der vor dem Diwan stand, um eine Kerze mit einem roten Phosphorstreichholz anzuzünden. Sie führte diese sanfte Bewegung aus, indem sie ihren Atem einige Sekunden anhielt.“

 

Ihr Arm blieb halb in die Luft gestreckt, als L.L. sofort diese Zeitlupenaussetzung von Ereignissen und Stimmung aufgriff und mit Begeisterung vor den Archivaren ausbrach:

„Dieser Tropfen aus verdünnter Zeit ist ein Wunder! Man muss innehalten und seine Erwartungen zügeln, weil man sonst einen grandiosen Anachronismus in voller Glut verpasst, der entsteht, wenn E.M. das Streichholz anzündet.“

Die Archivare hielten an und spulten zurück, legten einen Magentafilter von den Roten Beten drauf. Sie taten genau, was man ihnen gesagt hatte. Ihnen gegenüber stand L.L., die Nicht-Darstellerin, auf einer Bühne, die sie selbst gebaut hatte. Ihr Gesicht strahlte vor Freude, einer bestimmten Freude, die sie daraus zog, dass sie ihre Nase in die gedanklichen Mühen der Historiker steckte.

„Anachronismus gilt als die Erbsünde der Historiker“, begann L.L. fröhlich ihre Erklärung.

„Und wenn dem so ist, dann will ich niemals für meine vielen Anachronismen büßen. Um ehrlich zu sein, trage ich Anachronismen und Prolepsen mit mir herum wie andere ihre Auto- oder Hausschlüssel. Anachronismen sind mein Steckenpferd.

Sehen Sie, ein Wissenschaftshistoriker hätte diesen Anachronismus vermutlich sofort bemerkt und gefragt, ob E.M. an dem Tag wirklich, zusammengekauert auf dem Diwan, ein rotes Phosphorstreichholz angezündet hatte. Gefangen in unserem Wissensparadigma, verwenden wir als Zivilisten und nicht als Militärangehörige rote Streichhölzer. Oder vielleicht benutzen wir kaum noch überhaupt Streichhölzer. Aber zu dieser Jahrhundertwende waren weiße (oder gelbe) Phosphorstreichhölzer weit verbreitet, nicht rote. Obwohl man zu der Zeit schon wusste, dass weißer Phosphor Knochenkrankheiten auslöste, die bereits so viele Todesfälle gefordert hatten, dass es kollektive Bestrebungen gab, sein Vorkommen in Streichhölzern zu verbieten, dauerte es noch einige Jahre, bevor sie ausgewechselt wurden.“

Mit einer unwillkürlichen Geste legte L.L. ihre linke Hand auf eine blaue Broschüre und spreizte die Finger. Ihr Tisch im Archiv bot keine andere Aussicht als E.M.s Diwan: Bücher und Ordner mit Dokumenten erhoben sich auf einem knarrenden Tisch. Tatsächlich waren einige dieser Papiere, die L.L.s spontane Bibliographie ausmachten, einst von E.M. selbst berührt worden. Auf L.L.s vorangegangene schriftliche Anfrage hin hatten die Archivare nach ihnen in den dunklen und kalten Lagerräumen des Archivs gesucht und sie ihr ausgehändigt. Einige Dokumente kamen in Schachteln, die wie Geschenke zusammengebunden waren. Jetzt standen sie auf dem Tisch, unter den Augen der Archivare, und L.L. blätterte sie durch. Aufgrund ihres täglichen Kontakts mit eingelagerten Dokumenten und ihren Pilzen sowie der Bürokratie, die damit verbunden war, hatten die Archivare ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrem Beruf entwickelt. Oft dachten sie nur daran, wie schwierig es war, das pilzbefallene Material zu verstehen, all die handgeschriebenen Dokumente in nahezu unbekannten Sprachen oder mit Buchstaben, die längst nicht mehr in Gebrauch waren. Aber hier stand L.L. nun vor ihnen, wie eine Bauchrednerin, und versuchte offenbar, sie umzustimmen.

L.L. ließ die Hand auf demselben Buch und fuhr unbehelligt fort:

„Ein besorgter Sozialhistoriker erklärt uns, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts internationale Gesundheitsschutzmaßnahmen eingeführt wurden. Im September 1906 fand eine internationale Tagung in Bern statt mit dem Ziel, weißen Phosphor aus der Streichholzindustrie zu verbannen. Ach! Wenige Staaten kümmerten sich um ihre Bürger und Arbeiter, deren Arbeitsstunden in diesen Zeiten eine „Angelegenheit der freien Vereinbarung“ waren, und noch weniger Politiker nahmen es auf sich, Gesetze zu verabschieden, die die Gesundheit schützten. 1906 war Österreich-Ungarn keine Ausnahme und ignorierte die Sache mit dem weißen Phosphor. Erst einige Jahre später, 1911, verabschiedete Ungarn ein Gesetz, das diese Streichhölzer verbot. Und es dauerte weitere zwei Jahre, bis das Gesetz in Kraft trat. Heute scheint Quecksilber eine ähnliche Geschichte zu schreiben“, fügte L.L. beiläufig hinzu, womit sie leicht an der Oberfläche der heutigen Realität kratzte.

„Es ist höchst wahrscheinlich, dass E.M. diese Streichhölzer wenigstens einmal am Tag benutzte, bis ungefähr 1911, um den ein- oder anderen Ofen zu heizen. Im Rest des Hauses konnte sie stattdessen elektrische Lampen, wenn sie das wirklich wollte, einschalten. 1908 waren solche Lampen der transsilvanischen Mittelklasse zugänglich. Man konnte sie im Laden von Gabor Bereș im Zentrum der Provinz bestellen, wie in einer rumänischen Zeitung annonciert war. Diese Anzeigen sind eine der besten Quellen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was in der Vergangenheit auf dem Markt war, von Nähmaschinen und Damenpuder bis hin zu hochhackigen Schuhen und extravaganten Kutschen. 1907 konnte man im selben geographischen Gebiet Edisons Phonograph für gerade mal fünf Florine kaufen. Um einen Phonographen zu kaufen, musste man nur Tóth József in Szeged kontaktieren. Seine Anzeige in einer rumänischen Zeitung mit dem Namen Tribuna versicherte möglichen Kunden, dass sein Handelsverkehr keine Sprachgrenzen kenne.

Wie dem auch sei, die traurige Ironie der Geschichte um den weißen Phosphor ist, fernab davon, dass er aus der Welt verschwand, dass dieses Material eine mindestens ein Jahrhundert andauernde Karriere in der Kriegsführung gehabt hatte. Nahezu kein Krieg verging, ohne dass jemand weißen Phosphor an seinen blutigen Händen hatte …“

 

Kurzatmig hielt L.L. für einen Moment inne, um ihre Position auf dem Stuhl zu verändern. Ihr gegenüber atmeten die beiden Archivare, die L.L. als praktisch identisch wahrnahm, ruhig und regelmäßig, wie Katzen, kurz bevor sie einschlafen. Sie würden niemanden an den grimmigen Zerberus erinnern, und sie bewachten ein Lager, das für die wenigsten von Interesse war. Abgesehen von L.L. waren diejenigen, die in das kalte Archiv getreten waren, meist Anwälte und Privatpersonen auf der Suche nach alten Eigentumsdokumenten. Aber an diesem Tag fehlten sogar diese Menschen.

Mit einer leichten Berührung von links nach rechts streifte L.L.s Hand die gelbe Oberfläche einer großen Zeitung, die offen vor ihr lag. Sie bewegte ihre Finger leicht auf und ab, als wären die Buchstaben mit einer erfühlbaren Schrift gedruckt worden. Oder vielleicht konnte L.L. auch die Gänsehaut eines sehr langen und dünnen Arms aus Dokumenten lesen, der durch alle Archive der Welt reichte und sie miteinander verband.

Als sie L.L.s Fingerbewegung bemerkten, sahen sich die Archivare an. Unter ihren neugierigen Blicken fuhr L.L. fort:

„Ich betrachte Anachronismen als Grabsteine und nicht als Erbsünden. Sie sind fast immer anwesend, jedes Mal, wenn wir versuchen, der Vergangenheit aus der Hand zu lesen. Sie zeigen uns den Eingang in die Vergangenheit. Oder sogar in die Zukunft. Aber jetzt reicht es erst einmal, diesen beabsichtigten Anachronismus, der unter E.M.s Augen flackerte, als Ruhepunkt zu betrachten. Nennen wir es eine Meta-Streichholzschachtel, die einen anderen Nutzen haben soll – vielleicht in einer Notfallsituation oder als eine Art Einladung … ganz nach Belieben.“

Erinnerung 137

Im Alter von drei Jahren äußerte L.L. den ersten Konditionalsatz seines Lebens. Nicht lange danach, noch bevor er sieben wurde, verlor L.L. seinen Glauben.

 

L.L. ertappte sich an einem dieser späten Novembertage dabei, über solche Wendungen nachzudenken, als er nichts weiter tun konnte, als geduldig eine Lage Zeitung auf die nächste zu kleben.

„Eine Art Zeitvertreib, oder, wenn man so will, eine andere Möglichkeit, Elefantenzeit zu messen“, unterbrach L.L. zur Klarstellung.

L.L. versuchte, sich an seine erste Erfahrung mit einer christlichen Religion und wie er dem Bruch mit ihr immer näher gekommen war zu erinnern. Für L.L. als Kind drehten sich religiöse Geschichten um lustige Dinge, die mit Engeln und Leuten, die über Wasser liefen, zu tun hatten. Deshalb verstand L.L. diese Geschichten auf ganz besondere Art: Statt sie einfach zu glauben, machte er sie nach und versuchte, den Kern der Geschichten so gut er konnte zu treffen. Also verbrachte L.L. seine frühen Jahre mit frustrierendem Ausprobieren, das ihm die Grenzen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten aufzeigte. Alles entwickelte sich sehr schnell. Nach nur drei oder vier ergebnislosen Versuchen mit Wundern im Eigenbau schien alles vorbei zu sein.

Es war ein Fehlstart, und er hatte als Kind den Eindruck, betrogen worden zu sein. In späteren Jahrzehnten rang L.L. immer mehr mit einem andauernden Schuldgefühl, eines der wenigen Motive seiner christlichen Frühziehung, das er nicht vollständig abstreifen oder ignorieren hatte können. Als er das herausfand, war L.L. gezwungen, immer mehr über seine Anfänge nachzudenken und indirekt auch über sein Sich-abkehren von der Religion. Nach all diesen Jahren wurde L.L. sehr klar, dass sie keineswegs eine klare Sache gewesen war.

 

Die Art, wie es geschah, war weder zu gewöhnlich, noch zu außergewöhnlich. In ihm blieb diese Episode in einem grauen Dazwischen aus retuschierten Erinnerungsschichten versunken.

 

Auf der Suche nach exakt diesem Erinnerungsstück stehlen sich L.L.s Gedanken durch das Heizsystem des Hauses, weiter in den Keller und erreichen das verzweigte Netzwerk aus Rohren auf der Hauptstraße. Obwohl kaum sichtbar, ist L.L. dort und rennt wütend durch das Rohrleitungssystem. Zwei graue Bilder überlagern sich: Es könnte sein, dass L.L. tatsächlich auf einer Landstraße entlangläuft, während im Hintergrund lediglich grotesk endlose Rohre sind. Verärgert rennt er weiter, ohne Anzeichen von Erleichterung oder Erschöpfung, bis ein unbeschreiblicher Gestank ihn aufhält. Tropfnass bricht L.L. mit einem tief aus den Eingeweiden kommenden Schrei zwischen den Rohren zusammen. Das Doppelbild mit L.L.s durchsichtigem Körper gegen die Untergrundkonstruktion aus riesigen Röhren verschwindet nach und nach, bis alles zu einem weißen Betttuch wird. Nach ein paar Sekunden blinkt eine Reihe roter Zahlen in der Ecke eines weißen Rechtecks auf, und nur die C-förmige Kurve von L.L.s Rückgrat wird auf der rechten Seite des Rechtecks sichtbar dargestellt: ein großer, dunkelbrauner Halbkreis mit Protuberanzen im Vordergrund, der ein Drittel des weißen Lakens bedeckt. In dem Moment übernimmt L.L. kurz seine eigene Stimme. Bequem sitzt er in einem Sessel in der Kinoecke seiner großzügigen Wohnung, sieht in eine unbestimmte Richtung und erklärt:

„Dorthin zurückzukehren war schon immer eine verschlungene, ungestüme Reise, und je öfter ich zurückgehe, desto unwahrscheinlicher werden meine eigenen Erinnerungen, bis ich vermuten muss, dass ich selbst sie zur Ablenkung erfunden habe. Und zu wessen unproduktiver Unterhaltung könnte das wohl sein, außer zu meiner eigenen oder A.s oder der ein paar anderer? Auch für K.? Wie dem auch sei, wann immer ich Zweifel an der Mischung aus Einbildung und Erinnerung habe, versuche ich, mir die Lichtqualität in diesen vermischten Fragmenten anzusehen. Ich war nämlich nie wirklich gut darin, natürliches Licht zu erfinden. Stattdessen tut mein Schädel so, als sei er eine Camera Obscura und lässt Licht herein und heraus. Auf dem Weg heraus projiziert er seitenverkehrte Bilder. Dann finde ich mit einer Laterne manchmal meinen Weg durch die Erinnerungsschichten und entziffere, was wirklich passiert sein könnte und was nicht. Mehr kann ich dazu nicht sagen … Nur dass ich davon überzeugt bin, dass Erinnerungen wie Allophone sind – Variationen einer Sache, die einmal geschah: e1, e2, e3 … en. Ich könnte mir ein System überlegen, um die Visualisierung zu erleichtern, aber stattdessen möchte ich Ihnen sagen, dass ich an dem Sommernachmittag, an dem ich mich an dem Baum maß, der vor meinem Fenster wuchs, wirklich dachte, ich würde ihn eines Tages an Größe übertreffen. Alles, was ich in dem Alter wollte, war so hoch zu sein wie ein Baum, oder sogar ein bisschen höher. Ich umkreiste ihn staunend, wie ich es immer noch bei manchen Bäumen mache, und war glücklich bei dem Gedanken, gemeinsam zu wachsen. Bäche, Bäume und Hennen hatten denselben ontologischen Status wie die anderen Kinder um mich herum.“

 

Eines Tages, wahrscheinlich in demselben Sommer, als aufgrund eines unglücklichen Wurfs zwischen zwei Individuen ein Zauberwürfel herunterfiel und so zerbrach, dass er sich nicht mehr reparieren ließ, beschloss L.L., diesen Verlust auszugleichen. Also versuchte er, das kommerziell erfolgreiche Spielzeug durch etwas ebenso Faszinierendes zu ersetzen, obwohl es sich als recht schwierig herausstellte, einen adäquaten Ersatz zu finden. Schließlich entschied sich der Kleine für etwas, das lediglich wenige Zutaten erforderte: Erde und den Lebensatem.

Voll konzentriert auf seine neue Tätigkeit, ging L.L. nach draußen vor das Gebäude. Dort wiederholte sich der Fall des Zauberwürfels immer wieder in seinem winzigen Kopf, der so klein war, wie der Schädel eines Kindes zwischen drei und sieben nur sein kann. Und jedes geistige Bild des zerstörerischen Falls wog L.L. mit einem Esslöffel Erde auf, den er vorsichtig in eine weiße Plastiktüte häufte. Neben seinem Lieblingsbaum (fast Zwillingsbaum) kniend, schaffte er es, ein recht großes Loch zu schaufeln, das in direktem Verhältnis zu dem Baum und zu seiner eigenen Statur wuchs. Von da an war der verdrehte Würfel so gut wie vergessen.

Sobald L.L. diese kompensatorische Tätigkeit erledigt hatte, eilte er mit der Plastiktüte voller Erde die Treppen hinauf und stieß die Tür weit auf. Ohne eine Sekunde zu verlieren, sah sich L.L. im Haus aufgeregt nach einer Zeitung um. Und weil er kurz davor war, vor Ungeduld zu zerspringen, entfernten sich alle Objekte um ihn herum und blieben für eine nicht näher bestimmbare Zeit außer Reichweite. Wenn jemand die Szene von oben gesehen hätte, könnte sie L.L. als nichtssagenden Punkt sehen, der durch die Mitte des Raumes taumelte. Jeder Versuch, nach etwas zu greifen, führte zu nichts, weil sich ihm alles mutwillig entzog. L.L. hatte die Rolle eines Magneten, der abstieß und von allen Objekten im Raum abgestoßen wurde.

Hatten die Objekte im Raum Angst vor ihm? Hatte er etwas falsch gemacht? Was waren seine wahren Absichten? Wusste L.L. denn nicht fast alles, was es über räumliches Denken in seinem Alter zu wissen gab? Diese Fragen blieben ohne eine klare Antwort, als sich L.L. in einem Wutanfall auf den Boden warf. Der Raum bebte von seinen Schreien und Tränen. Und dann hörte es mit einem Mal auf. Über der Decke war nur noch blauer Himmel. Der Wutanfall war vollkommen verschwunden.

Mit einer Zeitung in der Hand drehte sich der reizbare L.L. plötzlich auf den Absätzen um, schnappte sich die Plastiktüte voller Erde und begann seine Neuauflage der Genesis. War eine Woche vergangen, ohne dass ihm die Erwachsenen von Gottes Erschaffung des Menschen erzählt hätten? So früh wie möglich hatte L.L.s Familie versucht, ihn in enger Verbindung zu Gott zu erziehen, samt streng einzuhaltenden Stunden, die für religiöse Studien reserviert waren. Aber ihn wurden die Geschichten aus der Bibel gelehrt ohne eine vorsorglich Warnung, sie zu Hause (oder egal wo sonst) auszuprobieren.

An diesem Tag kam L.L. in seiner schöpferischen Tätigkeit recht weit. Er hatte bereits das Bett mit Zeitungen ausgelegt, um es zu schützen, und dann den Inhalt der Plastiktüte mit Bedacht darauf ausgeleert. Alles in allem eine schlichte Abfolge von Handlungen, wie dieser eine Satz in der Bibel:

„Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“

L.L.s winzige Hände versuchten, die Erde zu formen. Als er sah, dass sie nicht in Form bleiben würde, eilte er hinaus, um ein Glas Wasser zu holen, was ihm dabei half, die Erde anzufeuchten, damit sie sich leichter formen ließ. Nach bestem Können verwandelte er den Haufen Erde in eine kleine Kreatur, die wie ein menschliches Wesen aussah. Die Ähnlichkeit war verblüffend, jedenfalls in L.L.s Kopf. Mit dieser menschlich geformten Erdmischung unter seinen Händen blieb ihm nur noch, den Lebensatem in die Nase zu blasen. Schließlich war die Beschreibung der Erwachsenen, wie man das tat, recht einfach, weil es nur zwei Verben brauchte: „formen“ und „blasen“.

Nicht der kleinste Funken Zweifel hielt L.L. davon ab, seinen Plan, den Zauberwürfel zu ersetzen, durchzuführen. Nicht ein Konditionalsatz schoss ihm in den Kopf. Und doch konnte und wollte es nicht geschehen.

Was den Rest der Erinnerung betrifft, wäre es eine Frage der Höflichkeit, eine zu detaillierte Beschreibung von L.L.s rotem Gesicht zu vermeiden, als er Atem in die Erde blies, die einfach nicht lebendig werden wollte. Schließlich unterbrach ein lärmender Erwachsener die Ereigniskette, die an einem entscheidenden Punkt stagniert war. Neben dem Bett kniend und ganz und gar in diese offenbar dreckige und sündige Tätigkeit vertieft, wurde L.L. vollkommen überrumpelt und schaffte es nie zu erklären, was er dort tat. Seine Absichten waren auktorial gewesen, und er hatte daran gearbeitet, bis seine roten Wangen sich in zwei große Weihnachtskugeln verwandelt hatten. Trotzdem reagierte der Erwachsene erbarmungslos und forderte auf der Stelle die Beendigung aller Schlammaktivitäten auf dem Bett. Sofort und endgültig.

L.L.s Gefühle schwenkten zunächst in Richtung ehrlicher Enttäuschung und Verwirrung, Gefühle, die nach jedem ernsthaften Versuch eines letztlich gescheiterten Unterfangens auftraten. Da fing L.L. an, eine Reihe neuer, tiefer Empfindungen zu kosten, die er (wie E.M.) lieber für sich behielt. Nahezu alle Erfahrungen, die in diesen jungen Jahren seines Lebens auftraten, vermischten sich zu einem fragilen Bündel aus Schuld, Scham und Disziplin. Notgedrungen vertiefte L.L. sich in kulturelle Lektionen über Besitz, bürgerliche Ehrbarkeit, Geschlechterrollen usw. Nicht lange danach begann L.L., sich wie ein Nutztier in der Massentierhaltung zu fühlen. Als einzigen Unterschied machte er aus, dass er in einer anderen Art Käfig gehalten und mit Werbung und Ware gefüttert wurde.

Natürlich wollte L.L., als er in seinem Versuch, Lebensatem in die Erde zu blasen, unterbrochen worden war, dem religiösen Geschichtenerzähler gegenüber, der ihn auf frischer Tat ertappt hatte, auf nicht schuldig plädieren. Aber L.L. konnte keine Stimme finden, um etwas zu erklären, das er selbst nicht einmal verstand. Hätte L.L. alles getan, wie man ihm gesagt hatte, hätte er in seinem schöpferischen Unterfangen erfolgreich sein müssen, so schien es. Aber irgendwo war der Versuch schrecklich schiefgelaufen, und L.L. war dem Verständnis von Enttäuschung und Selbstvorwürfen einen winzigen Schritt näher gekommen.

Auf lange Sicht und rückblickend betrachtete L.L. diesen Fehlschlag als den Beginn seines Unglaubens. Er verzeichnete diesen Vorgang als seinen 37. Versuch, sich an diese Kindheitsepisode zu erinnern, und notierte sich, dass es sich dabei exakt um Erinnerungsstück 137 handelte, ein weiterer willentlicher Sprung auf seinem Erinnerungstrampolin.

Diese Art der Beschäftigung ließ ihn üblicherweise ausgelaugt und erschöpft zurück, so dass er den Drang verspürte, seinen ausgedachten I. mit zu einem langen Spaziergang durch die Nachbarschaft zu nehmen.

 

Zusammen öffneten L.L. und I. die Tür und gingen eilig, mit einem Regenschirm.

Episode 11

Es war früh im Dezember, als sich die Stadt ohne Fallschirm in den Weihnachtstrubel warf. Mittlerweile berichteten sämtliche Nachrichtenkanäle wie besessen von Rekorden im Onlineverkauf. Einige Jahrzehnte zuvor waren Radio und Fernsehen östlich des Eisernen Vorhangs ebenfalls voll mit Prahlereien über ähnliche Rekorde. Nur damals waren diese Rekorde die beschönigten Leistungen der Arbeiterklasse.

Als an einem Montagmorgen in diesem frühen Dezember der Bauch des kollektiven Gedächtnisses rumpelte, durchquerte der storchbeinige L.L. diagonal die städtische Landschaft. Er bewegte sich, wie um durch seine physische Ausrichtung klar zu machen, dass er den kommerziellen Wahn nicht an sich heranlassen würde. Trotz seiner Entschlossenheit würde L.L.s Widerstand bald gebrochen werden. Den Weg zum Archiv fand er nur mit Schwierigkeiten, als trüge er eine Last. L.L. machte schon eine längere, entmutigende Phase durch. Nicht nur verbitterte ihn die Konsummanie, auch die fallenden Temperaturen des Winters und das Fehlen der Sonnenkraft trugen dazu bei, seine Laune zu verschlechtern. In letzter Zeit hatte sich L.L. so unbeweglich wie ein Kaktus in einem Zimmer voller Teddybären gefühlt. Seit einigen Jahren war dieser Zustand medikalisiert und als „saisonal-affektive Störung“ bezeichnet worden. In Ermangelung besserer Möglichkeiten klammerte sich L.L. an die Stunden, die er im Archiv verbrachte, wie ein Raucher an seine Zigarettenschachtel. Im Archiv brachten die Geschichtenblasen, die L.L. erzeugte, ihn und die Archivare auf eine Art zusammen, wie die gemeinsam ausgeatmete graue Wolke Raucher vereint.

L.L. unterschied nicht sehr zwischen einem Kunstmuseum, einem Archiv und einem Kinosaal, weil alle drei Orte bemerkenswerte Erfahrungen für sein Rückgrat ermöglichten. L.L.s Schritte, von denen jeder ungefähr vierzig Zentimeter maß, führten mit der Präzision und Konzentration eines Seiltänzers von Punkt H zu Punkt A. Seine Tritte folgten ebenfalls einer existentiellen Routine, ohne die L.L. bestimmt einen inneren Kollaps oder eine katatonische Reaktion erlitten hätte. Jeder Schritt, den L.L. auf das Archiv zuging, erzeugte in ihm zeitgleich das Gefühl von Gleichgewicht und Ungleichgewicht, was ihn an ein Kunstwerk erinnerte, das er vor einigen Jahren im Palais de Tokyo gesehen hatte. Die Installation, die in L.L.s Erinnerung sicher aufgehoben war, lud die Menschen dazu ein, durch einen makellosen Korridor zu gehen, weiß und lang genug, ein vorübergehendes Gefühl des Gleichgewichtverlusts hervorzurufen. Die Augen des Besuchers fanden schließlich den einzigen Referenzpunkt am anderen Ende des Korridors: eine kleine orangefarbene Blume, die knapp über L.L.s Augenhöhe hing. Den Blick auf die Blume in dieser weißen Leere gerichtet, erzeugte bei L.L. ein tranceartiges Gefühl der Stabilität, inmitten einer absichtlich herbeigeführten Benommenheit. So ungefähr betrachtete L.L. die Archive als orangefarbene Blumen in weißgrauen Städten im Winter.

An diesem Tag, als er sich dem örtlichen Archiv näherte, konnte L.L. aus der Ferne einen dunklen, schwankenden Punkt in einer dieser Richtungsblumen sehen. Es schien sich nur um einen beweglichen Schatten zu handeln, aber bei näherer Betrachtung bekam er die Konturen einer sich hin- und herwälzenden Frau. Erst als L.L. bei den Archivaren war, verwandelte sich dieser Quecksilberfleck in ein durchscheinendes Bild von E.M.

 

„Es muss während eines der feministischen Treffen gewesen sein, das E.M. in einer Stadt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie besuchte (höchstwahrscheinlich in Prag, zu der Zeit, als die tschechischen Frauen das Komitee für das Frauenwahlrecht im Dezember 1905 gründeten), als sie versuchte, weitere öffentliche kinematographische Vorführungen zu finden. Sie war dabei sehr diskret, als hätte sie nur ein vernünftiges und nicht übermäßiges Interesse. In diesen Jahren war E.M. nahezu vollständig von der zunehmenden Internationalisierung der Frauenbewegung in Anspruch genommen, die sich in ganz Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch verstärkte. Während dieser befreienden Reisen fand E.M. wenig Zeit für ihre eigenen inneren Rätsel.

Lange Zeit wollte E.M. mit niemandem offen über ihre sinnliche und emotionale Reaktion auf ihre erste kinematographische Erfahrung sprechen. Sie fühlte sich sicherlich unbeschreiblich verletzlich, wenn die Sprache darauf kam. Ihr war klar geworden, dass ihre Erfahrung ihre privatesten und intensivsten Emotionen hervorgerufen hatten. Gleichzeitig fürchtete E.M., deren Qualität zu beeinträchtigen, wenn sie sie in egal welcher Sprache enthüllte, weshalb sie diese Emotionen lieber in sich einschloss. Aber was E.M. von Anfang an nicht vorhersehen konnte war, dass die Erinnerung an diese intensiven Gefühle verderben würde, wie ein Filmstreifen, der im Boden vergraben wird. Die Ergebnisse dieses Umwandlungsprozesses könnten zu einem angenehmen ästhetischen Experiment oder in ein vollkommenes Desaster führen. Aufgrund des Wertes, den die Erinnerung in E.M.s Herz trug, scheint letztere Hypothese weit plausibler. Bevor sie nach der nächsten Möglichkeit suchte, sich bewegte Bilder anzusehen, musste E.M. erst zweimal oder noch häufiger, über die beste Vorgehensweise nachdenken. Was, wenn es nur eine einmalige Reaktion gewesen war, die nie wieder eintreten würde? E.M. fürchtete, sie könnte nicht nochmals dieselbe Intensität in ihrem gesamten Körper und Nervensystem auslösen. Das waren schließlich berechtigte Bedenken. Befürchten wir nicht alle, dass unser Lieblingsbuch beim zweiten oder dritten Lesen nicht mehr dieselben Empfindungen in uns rührt? Die Dringlichkeit dieser Frage fesselte E.M. ans Haus, und es dauerte Jahre, bis sie sich einen weiteren Kurzfilm ansah. Damals ahnte sie noch nicht, dass diese sehnlich erwartete Erfahrung sich als herzzerreißend erweisen würde … Die Frist zwischen ihrer ersten und ihrer zweiten kinematographischen Erfahrung bestand für E.M. mit einer eigentümlichen Mischung aus Ereignissen, die sie in ihrem Sammelalbum festhielt.“

 

Mit sehr einfachen Bewegungen schob L.L. das Dokument in die Mitte des Tischs, wie er es üblicherweise tat, und öffnete es geräuschlos. Es sah aus wie ein schwarzes Familienalbum, mit halbtransparenten grauen Trennseiten vor den dickeren. Als seine quadratischen Deckel auf dem Holztisch moderten, näherten sich die Archivare seinem Inhalt in sachkundiger, distanzierter Haltung. Weil sie schon seit Jahrzehnten mit der Klassifizierung von Dokumenten beschäftigt waren, fühlten sich die Archivare von der wachsenden Anzahl an Papieren, die eingeordnet und gelagert werden mussten, überfordert, wodurch sie in eine schwerfällige Alltagsroutine fielen, die L.L. seit jeher versuchte zu durchbrechen. In den Depots behandelten die Archivare ihre Dokumente mit großer Vorsicht und trugen Handschuhe, um sich vor Hautkrankheiten zu schützen, während sie sich an der Ausleihe darauf konzentrierten, Computerprogramme zu lernen, mit denen sich Onlinearchive aufbauen ließen. Diese mühevolle Kleinarbeit erledigten sie neben ihrer alltäglichen bürokratischen Obliegenheit, der Öffentlichkeit den Zugang zu den Dokumenten zu erleichtern. „Zwei Hände pro Person sind für diese Arbeit nicht genug“, gestand einer der Archivare einmal L.L. gegenüber, der sie nun sachte in E.M.s Sammelalbum lockte, eine systematische Aufzeichnung dessen, was ihr gefiel und was sie beunruhigte.

„Zeitungsausschnitte, Bleistiftzeichnungen, Fotos, die letzten Wörterbucheinträge und die faszinierendsten handgeschriebenen Texte in Tinte und Bleistift“, sagte L.L., indem er die augenfälligsten Objekte, die in diesem Album gesammelt waren, aufzählte.

„E.M. war davon überzeugt, dass sie, um zu verstehen, welche Sinne noch in ihr lauerten“, erklärte er, „ihre Wahrnehmung radikal schärfen musste. Sie erlaubte sich, langsam auf die Welt, die sie umgab, zu reagieren und kümmerte sich immer weniger um gesellschaftliche Konventionen.

Zum Beispiel nahm E.M. von den Habsburgern“, fuhr L.L. fort und zeigte auf ein Foto, „nur Erzherzog Franz Ferdinand in ihr Album auf. Und selbst er tauchte das eine Mal nur wegen seiner Begleitung auf: ein wundervoller indischer Elefant, dessen Bild E.M. dazu brachte, sorgfältig ihr Wissen zu überprüfen und alle Bücher, die sie über Elefanten und Zoos gelesen hatte, aufzulisten. Ihrer eigenen Schätzung nach hatte E.M.s Wissen über diese Kreaturen die Größe eines Elefantenfußnagels.“

E.M.s Handschrift erschien auf den ersten Blick ordentlich, aber bei näherer Betrachtung erwies sie sich als schwer entzifferbar. Das Foto, ein original Albumindruck von 1893, den E.M. als Geschenk bei einem Ball in Wien erhalten hatte, war in die Mitte einer Seite geklebt. Dünne Striche gingen von dem Foto aus und verbanden Wörterwolken, Listen, zufällige Assoziationen, Zahlen und Zeichnungen. L.L., der die Bedeutung dieser Fragmente bereits herausgefunden hatte, bewegte sich nun mit Leichtigkeit und Genugtuung zwischen ihnen.

Auf der anderen Seite des Tisches mimten die Archivare die Rolle des skeptischen Pessimisten und erfreuten sich daran, L.L. mit ihrem Strohmann ob der Vergeblichkeit archivarischer Forschung und der Unmöglichkeit, Sinn in diese nummerierte Unordnung zu bringen, aufzuziehen. Es handelte sich dabei um eine kleine, herkömmliche Schlacht, die die Archivare und L.L. seit nunmehr einem Jahr im Hintergrund führten. An diesem Montagnachmittag erstarben entfernte Schlachtgeräusche nach und nach und wurden schließlich gänzlich eingestellt.

In dem staubigen Lesesaal drangen blasse nachmittägliche Sonnenstrahlen durch die Fensterläden und tasteten die drei über E.M.s Sammelalbum gebeugten Gesichter ab. Was war das eigentlich, was sie in den Händen hielten? Ein Kunstalbum? Ein Elektrokardiogramm? Vielleicht private Notizen, die niemand je hätte lesen sollen. Als die ungeladene Leserschaft Seite um Seite, Stunde um Stunde umblätterte und die Abdrücke von E.M.s Verständnis ihres eigenen Lebens deutete, fand sie weitere Zeichen und Zeichnungen, Pfeile, eine graue Haarlocke, die an ein anderes Foto geheftet war (vielleicht von ihrer Mutter) und eine Auswahl von Zeitungsauschnitten. Einer handelte von einem Autorennen 1902 von Paris nach Wien, das Marcel Renault gewann, der die 1439 Kilometer lange Route in 25 Stunden und 51 Minuten zurückgelegt hatte. Mit einem grünen Stift hatte E.M. all diese Zahlen eingekreist und mathematische Gleichungen, die kein Leser je wird dekodieren können, danebengekritzelt. Mit dem nächsten Ausschnitt schien L.L. die Archivare ein Stück weiter in die Richtung zu schieben, in der er sie haben wollte. Mit rauer Stimme übersetzte er die folgenden Nachrichtenschnipsel für sein Publikum:

„In der kleinen Stadt Albi (im Süden Frankreichs) geschah es vor achtzehn Jahren, dass das Geschlecht eines kleinen Jungen bei der Geburt nicht bestimmt werden konnte. Das Neugeborene war ein Hermaphrodit. Damals wurde entschieden, dass eine offizielle Kommission das Geschlecht des Neugeborenen, wenn es das Alter von achtzehn Jahren erreicht hat, feststellen würde. Währenddessen vergaßen die Eltern alles, was bei der Geburt geschehen war, und das Kind wuchs mit den Jahren zu einem Mädchen von seltener Schönheit heran. Die Überraschung der Eltern war groß, als die aus Ärzten bestehende Kommission kürzlich zu ihnen nach Hause kam, um das Geschlecht der Dame zu bestimmen. Die Kommission ermittelte, dass Fräulein Maria Luisa ein Junge war. Sie schnitten ihr sofort die blonden Locken, und statt Maria Luisa nannten sie ihn Marius. In der Folge trug ‚Fräulein‘ Marius Hosen statt Röcke.“

Sichtlich verärgert über den vagen, verschämten Reportagestil des Artikels, ertappte sich L.L. dabei, in fast schon wissenschaftlicher Sprache über textlichen Terrorismus, Angst als Dämpfer von Widerspruch und die gewaltsame Medikalisierung von Hermaphroditismus loszulegen, was seine Frustration nur vergrößerte. L.L., der sich nicht mehr stoppen konnte, endete mit einer Wutrede über die Rolle, die Zeitungen bereitwillig annahmen und dadurch Verhaltensmuster verstärkten, die Massen nationalisierten und nationale Einrichtungen maßregelten.

Mit dieser ausgedehnten Kritik hatten unterschwellig Strömungen der Gereiztheit in den Raum Einzug gehalten, die nun drohten, zu einer Welle aus Ärger anzuwachsen. Der Tisch und die Stühle knarrten unter diesem Druck, und der atmosphärische Wandel riss den Archivaren fast den Boden unter den Füßen weg. Hatte L.L. die Gefühle von E.M. richtig übersetzt, oder war seine eigene unkontrollierbare Frustration gerade hervorgebrochen? Sollte er die Wut weiter herauslassen oder die Krise entschärfen? Ein Schreiduell wäre besonders passend gewesen, und L.L. konnte es vor seinen Augen stattfinden sehen. Er fand seine Reaktion gerechtfertigt.

„Glauben Sie, dass alle Bücher und Filme entstanden sind, um endlos zu gefallen?“, warf L.L. eine rhetorische Frage in die Luft. Und dann, um eine verneinende Antwort auf seine Frage zu besiegeln, fügte er hinzu:

„Einer meiner liebsten Filmregisseure sagte einmal, dass ein Film ‚wie ein Stein im Schuh‘ sein müsse.“ Da er nicht vorhatte, die Archivare zu schonen, ritt er die Wutwelle weiter. Während er die Primärquelle für den Bericht dieses Tages schloss, sagte er:

„Stellen Sie sich jetzt vor, wie wir E.M. sehen, die in einem stattlichen Saal sitzt, die Augen auf die Leinwand geheftet. Sie sieht eine merkwürdige Mischung aus Kurzfilmen und weiß nicht genau, was sie erwarten soll. Zuerst spulen lautlos zwei medizinische Filme ab. Typisch für diese frühe Phase in der Filmgeschichte, sie sollten die Bevölkerung vor diversen Krankheiten warnen. Dann erduldet E.M. eine abgefilmte Operation, die von Eugène-Louis Doyen durchgeführt wird: monochromes Blut und Gewebe, Kinematographie auf Medizin angewandt. Sie zucken aus guten Gründen verwundert die Schultern: Was tut sie da? Wie kam sie dorthin? Was kann sie sehen, was wir nicht sehen können? Auf Empfehlung einer Freundin muss es E.M. gelungen sein, Zutritt zu einem medizinischen Kongress zu erlangen, bei dem die Organisatoren eine Reihe bewegter Bilder vorführten. Sie sitzt dort ganz vertieft, und so wird sie noch lange Zeit, nachdem die Vorführung vorbei ist, bleiben: wie gelähmt vor einem dampfenden, riesigen Leichnam eines nichtmenschlichen Tiers.

Was E.M. auf der Leinwand an jenem Tag sah, war die öffentliche Hinrichtung eines Elefanten.

Wie ich hier anfange, Ihnen davon zu erzählen, merke ich, dass ich zum Megaphon des Henkers werde. Und Ihnen zu beschreiben, wie der Elefant vor Hunderten und Aberhunderten von Menschen, die das Spektakel genießen, auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wird, wäre für mich, als würde ich den Elefanten wieder töten, mit nur Ihnen beiden als meine Zeugen. Aber wollen auch Sie die Verantwortung für diese nachgestellte Prozedur übernehmen?“

Die Archivare wirken verwirrt und unsicher. Aber hatten sie nicht stillschweigend einen friedlichen, fiktionalen Pakt mit L.L. geschlossen? Und wenn L.L. nun im Sehen, Hören, Fühlen und Erzählen eine Art Komplizenschaft verspürt, müssen auch sie der Hinrichtung beiwohnen. Im Gegensatz zu den Archivaren sieht er beunruhigt und höchst verängstigt aus. Warum bedeutet das Nacherzählen für L.L. ein Teilnehmen? Für ihn ist es dasselbe wie in der jubelnden Menge auf einem öffentlichen Platz, in einem Zoo oder im Zirkus zu stehen. Nicht nur das, sondern für L.L. muss sogar jemand, der eine Zeitung liest, die all die lechzenden Details einer öffentlichen Hinrichtung wiedergibt, aus dem Bauch heraus reagieren. L.L. spürt, wie seine Halsvenen dickes Blut in sein Gehirn pumpen. Sein Gesicht wird rot, und sein gesamter Körper fühlt sich wie ein Behälter an, in dem sich Energie ausbreitet. Die Venen schneiden ihm die Luft ab, während die Archivare zusehen.

„Ich bin davon überzeugt, dass es ein Sakrileg wäre, sich zu lange mit dem Tod des Elefanten aufzuhalten. E.M. selbst machte nur eine feierliche Notiz von der Tatsache, dass 1903 ein Wesen im Besitz eines Elefantenkörpers in den Vereinigten Staaten von Amerika auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden war. Die restliche Seite in ihrem Album blieb unberührt, während auf der folgenden Seite ein Eintrag aus dem Merriam-Webster-Wörterbuch aufgezeichnet ist:

‚Herkunft von ELECTROCUTE. Electr- + -cute (wie in ‚execute‘). Erste bekannte Verwendung: 1889.‘

 

Die Politik hinter der öffentlichen Hinrichtung des Elefanten war wie folgt. Thomas Edison führte die Hinrichtungen auf dem elektrischen Stuhl durch, um die Gefahren des Wechselstroms zu demonstrieren, der von Nikola Tesla erfunden worden war, einem Emigranten aus dem Habsburgerreich, der sein direkter Konkurrent war. Was bei diesem sehr angespannten Wettkampf auf dem Spiel stand, war die Zukunft des amerikanischen Elektrizitätssystems, ganz zu schweigen von dem Vermögen, das sich mit der Kommerzialisierung der Elektrizität machen ließ. In diesem Machtspiel setzte Edison alles auf Gleichstrom, seine eigene Erfindung. Aber schließlich verlor der Gleichstrom in dem Wettstreit, da er sich als zu ineffizient erwies, Energie über weite Entfernungen zu liefern.

Die Geschichte der Elektrizität und die der Wissenschaft“, schlussfolgerte L.L., „verherrlichen die Erfinder und die Meilensteine, die erzielt wurden. Aber sie legen auch einen für sie bequemen Schleier über ein Massengrab von Opfern. An jenem Tag auf dem medizinischen Kongress stand E.M. bewusst am Rand dieses Grabs, aus dem beständig der Geruch von verbranntem Fleisch emporsteigt. Während sie dort stand und sich nicht rühren konnte, sah sie in ein tiefes Loch, in dem Vergangenheit und Zukunft zu einem verschmolzen.“

 

L.L. verließ das Archiv an diesem späten Montagnachmittag ohne ein weiteres Wort, und es würde einige Zeit vergehen, bis er wieder zurückkam. An diesem Tag hatte es L.L. endlich geschafft, dass die Zeit der Elefanten mit der Zeit der fallenden Teddybären zusammenlief.

 

Am Morgen hatte L.L. den Leichnam des Elefanten mit ins Archiv getragen, was auf den Straßen vollkommen unbemerkt geblieben war. Aber nach den langen Stunden, die er mit den Archivaren über E.M.s Album gebeugt verbracht hatte, blieb kein Schatten mehr derselbe. Mit jedem Einschalten einer elektrischen Birne wirkten die Schatten, die an die Decken und Straßenecken sprangen, wie aus einer anderen Welt. Zu Hause konnte L.L. beobachten, wie jeder Schatten die Umrisse eines Elefanten annahm, aber das geschah nur, wenn elektrisches Licht involviert war. Die Archivare hingegen waren empfänglicher dafür, die Schatten von auf dem elektrischen Stuhl hingerichteten Frauen und Männern auf die umgebenden Wände projiziert zu sehen, wann immer Licht eingeschaltet wurde. Von diesem Moment an bemerkten diejenigen, die L.L.s kurzen Bericht gehört hatten, eine ungewöhnliche Kontraststärke in Schatten. L.L. hatte eine visuelle Veränderung herbeigeführt: Menschliche und nichtmenschliche Tiere waren mit Schatten aus der Vergangenheit gepaart und überließen ihre eigenen Schatten anderen. Diese Veränderung konnte nur eintreten, wenn starke Gefühle sichtbar den Schatten und seinen Begleiter verbanden.

Aber all das war nur für jene zu erkennen, die eine Ahnung davon hatten, was im Archiv an jenem Wintertag geschehen war. Und unter bestimmten Umständen, die Elektrizität einbezogen, konnten diese Individuen ein fein funkelndes Muster aus Empathiefäden erkennen: Lichtvenen, die Schatten und Träger verbanden.

 

Der Stuhl

Es ist die längste Nacht des Jahres 2012. Der Hof ist feucht, die Küchenfenster wahrscheinlich geschlossen. L.L. hat Angst vor dem Vorhang, der zaghaft winkt, als wolle er ihr den Weg nach draußen zeigen. Nachbarn rufen in die Nacht. Die Tür ist verschlossen, die Wohnung zu groß. Geräusche lassen sie aufschrecken. Eine Gabel fällt, und L.L. zuckt zusammen.

 

Fast das ganze Jahr über war in L.L.s Welt, so oval und eigentümlich sie auch manchmal erscheinen mochte mit ihren unzähligen Treppen, Musik- und Kinoecken, Erdwällen, grünen Pflanzen und bunten Mauern, genügend Platz, um sowohl ihre eingebildeten Konstrukte als auch die echten Hybride, die sie täglich aufbrauchte, zu rangieren. Aber als 2012 zu Ende ging und die guten Tage immer weniger wurden, konnte L.L. diese Dinge nicht länger sanft herumschieben oder durch die Luft bewegen wie rote Ballons.

Im September tat sie noch so, als sei sie ein winziger Kerl in einem japanischen Computerspiel aus den 1980ern, der Kisten (die L.L. als ihre eigenen Konstrukte und Erinnerungsstücke ansah) durch ein Lager schob und versuchte, alle Puzzleteile ordentlich übereinanderzuschieben. Aber jene spielerischen Tage waren längst vorbei. Der Dezember fand L.L. nicht nur vollkommen außerstande, ihre Vorstellungskraft in vollem Umfang zu nutzen, sondern auch weiter an der gefährlichen Schwelle des Schlafs als je zuvor. Nur die Vibrations- und Sättigungsgrade des Elefantenschattens waren unvermindert.

Es muss noch einmal gesagt werden, dass L.L. immer die Macherin ihrer eigenen Fantasie mit allen Höhen und Tiefen war. Jetzt wurde diese persönliche Sequenz regelmäßig unterbrochen durch Zusammenbrüche, Monotonie und anhaltende Stille. Und wenn nichts, nicht ein einziges Produkt ihres Willens oder ihrer Fantasie, L.L. aufheitern konnte, wandte sie sich zum Schlafen, dem Reich, in dem kein Camcorder je gewesen war. In diesem dunklen Raum voller farbiger Träume genoss L.L. weniger Privilegien und weniger Verantwortung als im Leben. Sie wurde auf Gedeih und Verderb zu einer reinen Beobachterin ihres inneren Selbst. Von daher hatte sich L.L.s Sommerschlaf von fünf Stunden auf gute dreizehnstündige Forschungsträume in der Winterzeit leicht ausweiten lassen.

Bis zur Wintersonnenwende hatte sich L.L. zu einem beispiellosen Ausmaß in eine Traumwelt zurückgezogen und verbrachte eine überwältigende Stundenzahl nur in Begleitung eines Kissens. Den ganzen Monat über hatte sie versucht, gegen das Versinken in eine andere Realität anzukämpfen, scheiterte aber jedes Mal. L.L. identifizierte den Konsumwahn als primären äußeren Faktor, in diesem Jahr ihr negatives Verhalten hervorgerufen zu haben. Wie konnte sie denn auch widerstehen, sich im Reich der Träume zu vergraben, wenn die Weihnachtsunruhe die sogenannten fortschrittlichen Länder erfasst hatte – „fortschrittlich“ nur laut der engstirnigen Theorie, die das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt mit menschlichem Wohlergehen gleichsetzte, fühlte sich L.L. verpflichtet zu betonen, während sie die Schuld weiter aufteilte.

In der Folge suchte L.L. an vielen dieser dunklen Dezembertage die unruhigeren Gewässer ihres Unbewussten auf. Sie verbrachte mehr Zeit in diesem ungeselligen Traum, als jede tatsächliche Gesellschaft billigen würde. Während ihrer schlimmsten Zeiten schlief L.L. wie, um all den Schlafmangel, der sich weltweit gegen Ende des Jahres angesammelt hatte, auszugleichen. Glücklicherweise war der Schlaf sogar in dieser von fallenden Teddybären bewohnten Welt noch nicht Gegenstand formaler Regierungsverordnungen oder Bespitzelung geworden.

Aber war L.L.s Schlaf wirklich eine selbstgenügsame Aktivität? Oder ein Zeichen von Passivität? Die Disziplinlosigkeit eines Teenagers? Oder eine Flucht vor dem unempfindlich machenden täglichen Leben? Jede Antwort würde zwischen die Kategorien rutschen und scheitern.

Das waren die düsteren Koordinaten von L.L.s scheinbar einsamem und selbstversonnenem Leben in jenem Dezember.

 

Eine Nahaufnahme zeigt L.L. in ihrem Bett, in ihrem Hibernarium, wo tagsüber die meiste Zeit kein einziges Wort zu hören ist. Was sie träumt, kann nur anhand ihres Gesichts interpretiert werden, und es scheint sicher, dass L.L. in ihrem Schlaf keine Stimmen hören kann. Rehumanisierender Schlaf unterbricht zeitweise die Kommunikation, das Aufwachen aber richtet die Verbindungen problemlos wieder ein.

Während dieser paar Stunden, wenn L.L. es schafft, ihren Körper in eine vertikale Position zu ziehen, zeigen sich ihren weit geöffneten Augen zuerst die Möbel in ihrer Wohnung. Wie ungewöhnlich es ist, dass selbst nach so vielen Stunden Schlaf L.L.s Blick immer noch eine warme, geerdete Klarheit wahrt. Eine Zeitrafferaufnahme zeigt, wie sie rasch durch die Zimmer ihrer Wohnung gleitet, badet und ihren Körper ernährt und dann vor einem langen Holzregal stehenbleibt. Das Regal ist mit Farbe beschmiert. Darauf liegen Papierbündel, Holzstücke, Schachteln mit Lack und Leim, Bürsten. K., der Vermieter und Fast-Freund von L.L., ist für diesen Arbeitsplatz verantwortlich. Seit dem frühen September hatte K. Stück für Stück den Recyclingwurm weiter die Treppen hinaufgeschoben, bis er es schließlich geschafft hatte, seine gesammelten Objekte bis vor L.L.s Tür zu bringen. Mäßig und selektiv großzügig, wie L.L. nun mal war, musste sie nicht gerade überredet werden, die Dinge mit hineinzunehmen, als wären es streunende Tiere, die eine schützende Unterkunft brauchten. So wie A. ihren Beitrag zu L.L.s Wohnung leisten konnte, durfte auch K. eine neue Ordnung der Dinge vorschlagen. Deshalb hatte L.L. sich ohne Zögern auf dieses neue Projekt eingelassen: Erst kam das Holzregal, dann die Dinge darauf, und bevor L.L. sich versah, war sie zu Hause für unbestimmte Zeit in eine neue Routine geraten. Konnte es ein Monat oder länger gewesen sein? L.L. zuckte mit den Schultern. Bei ihrer Konzentration, einen Papierstuhl herzustellen (ihre neue, stumme Lieblingsbeschäftigung), brauchte sie sich nicht im Mindesten dafür zu interessieren, die Zeit zu messen.

Während sich L.L.s Projekt im Archiv um Empathie und Emotionen in der Geschichte drehte, hatte ihr Heimprojekt einen sehr vielgestaltigeren Anstrich. Seine Bedeutung veränderte sich ebenfalls, da sich L.L. weigerte, dem Objekt, das sie schuf, eine einzige Funktion zuzuordnen. L.L. fühlte sich wohl mit Mehrdeutigkeiten. Bisweilen war das Objekt L.L.s metaphysischer Stuhl, besonders an jeden Tagen, an denen sie aufhören musste, über ihre eigenen Ängste nachzudenken. Während der Schlafunterbrechungen, wenn L.L. oberflächlich an das Archiv dachte, war sie davon überzeugt, dass sie einen geeigneten Stuhl für Leser machte. Vielleicht für die wenigen, die immer noch ins Archiv gingen. Vielleicht für die Archivare. In jedem Fall einen Stuhl, um etwas an einem Stück zu lesen.

„Der Leserstuhl.“

„Der metaphysische Stuhl.“

„Aber nicht der elektrische Stuhl.“

„Heim-Recycling.“

„Selbstgemachtes Recycling.“

„[…]“

 

Welche Namen oder Absichten L.L. für diese Aktivität auch angemessen finden mochte, das entstandene Objekt behielt noch immer eine deutliche Referenz an Enzo Maris Eigenbau-Möbel aus den 1970er Jahren. Als Tribut an den kommunistischen italienischen Designer schrieb L.L. einen von Maris Nietzsche-artigen Sätzen über Design aus einem Magazin ab, das K. unter ihrer Tür durchgeschummelt und auf ihren Arbeitsplatz gelegt hatte.

Design ist tot.

Enzo Mari glaubte, wenn Design kein Wissen vermittele, sei es tot. In dem Propagandastück, das K. angeschleppt hatte, behauptete Mari, dass zeitgenössisches Design von der echten Welt abgeschnitten sei: Designer, vereinigt mit dem Kapital, kreierten nur noch ein „Traumland von Objekten, die prahlen“. Jeder, der L.L.s Fortschritt mit dem Stuhl beobachtete, würde erkennen, dass diese Ideen mitschwangen.

Das Gebäude, in dem L.L. wohnte, wie auch die grüne Umgebung schienen ein vergessener Ort zu sein, an dem sich K., und manchmal auch andere, die er überzeugen konnte, den Ideen Maris widmeten. Zweifellos musste der italienische Möbeldesigner eine zentrale Figur für K. gewesen sein, seit er im Teenageralter Maris Werk Autoprogettazione gelesen hatte.

„Was für ein utopisches Projekt mit einem radikalen Statement das doch war! Produktion ohne Arbeiter! Weg mit der Ignoranz der Gesellschaft, wenn nötig Schritt für Schritt, aber weg damit! Beendet die Ausbeutung!“

So erklärte K. leidenschaftlich das einflussreichste Projekt seiner Jugend, und das Echo seines Enthusiasmus hallte im hölzernen Treppenhaus wie in einer Kirche wider. K. trug immer das Kernstück von Autoprogettazione bei sich: Maris Entwurf für eine Möbelkollektion, die jeder nur aus Holz und Nägeln zusammensetzen konnte. Der Designer hatte sie jedem zugeschickt, der Interesse daran angemeldet hatte. An einem der Abende, den sie in der Nachbarschaft unter L.L.s Lieblingsbaum verbrachten, erfuhr sie, dass K. unter den Dutzenden gewesen war, die auf Maris Projekt angesprochen hatten. Im Gegenzug hatte K. Maris Entwürfe kostenlos bekommen, und er hatte sie stolz jedem im Haus gezeigt.

Auch wenn L.L. sehr geduldig war, konnte sie sich doch nicht immer dazu hinreißen lassen, K.s Geschichten über linke Helden anzuhören. L.L. klaubte zusammen, was sie konnte, schloss die Tür und arbeitete an dem Zeitungsstuhl, ohne sich dadurch notwendigerweise zu K.s Leidenschaft für das Herstellen von Dingen zu bekennen. In erster Linie zog L.L. einen therapeutischen Nutzen daraus, den Leim vorzubereiten, die Zeitungsseiten auszureißen und glattzustreichen und sie dann aufeinanderzulegen. Je mehr Lagen Papier sie auflegte, desto schwärzer wurden ihre Hände, und desto überzeugter war sie, dass eine monothematische Aktivität genau das war, was sie gerade brauchte.

K. versorgte sie mit den Grundstoffen für diesen Stuhl. Der Rest war L.L.s Beitrag. Von Anfang an war L.L. davon überzeugt, dass der Stuhl eine Bibliographie brauchte. Egal, welches Material sie benutzte, es fand seinen Weg auf ihre Auswahlliste: IKEA-Bauanleitungen, Jahresberichte des Geschichts- und Materialforschungsinstituts, ein Matrix-Poster, eine fotokopierte vierseitige Zeitung von einem obdachlosen Mann / einer obdachlosen Frau / einem obdachlosen Menschen in Budapest, ein Kalender von 1999, auf dem der kleine Maulwurf abgebildet ist, unzählige leere Toilettenpapierrollen, Frauenzeitschriften, noch mehr übriggebliebene Geschenkpapierrollen, Handyrechnungen von 2000 bis 2006, Seiten aus einem alten Kochbuch, übriggebliebenes Schutzpapier von Bilderrahmen, Flyer und diverse Werbekataloge, Hefte von der Frankfurter Buchmesse, Bedienungsanleitungen für Videorekorder, weitere Telefonrechnungen von 2006 an, und schließlich viele Zeitungen, darunter die taz. Die Auswahlliste war nicht alphabetisch, und L.L. zweifelte sogar an einem solchen Organisationsprinzip, bedachte man die Art des Projekts. Sie würde sich darum kümmern, wenn es soweit war.

 

Erst als L.L. ihre Blase zu Ende geblasen hatte, konnte sich der Leser hinsetzen. Einstweilen sah der Stuhl wie eine Papierskulptur aus. Er wog über zehn Kilo und bestand aus Papier und L.L.s langen und leeren Wintergedanken.

Episode 13

Die unfertige Stunde des Tages hat die Farbe von gesundem Eigelb.

Viele Tage müssen vergangen sein, seit L.L. zuletzt im Archiv war. Die Winterpause machte zusehends den Weihnachtsbaumstapeln an den Straßenecken Platz. Und wie um eine unsichtbare Balance in allen Stadtteilen zu halten, wuchsen Berge von Schnapsflaschen vor den überfüllten Mülleimern. Nicht eine einzige Schneeflocke fiel in diesem Winter, um sie zu bedecken: nicht auf die Weihnachtsbäume, nicht auf die Glasberge, nicht in K.s Hinterhof. Jeder einzelne Zentimeter blieb, wie er war, in einem traurigen Daseins- und Bewusstseinszustand, bis eines Tages die Sonne über allem aufging. Nach zwei oder drei Tagen stießen kleine, durchscheinende Schirme ihre grünen Spitzen durch den Boden. Sie maßen einen halben Finger. Unten erschienen die Röhren dieser sich zunehmend ausdehnenden Installation orangefarben, in der Mitte gelblich-weiß und die Verzweigung an der Spitze endete in einem Paar grüner Lippen. Jeder, der in diesen strahlenden Tagen einen bedächtigen Streifzug durch die Stadt machte, musste dieses entstehende Grün bemerken, ob er nun allein oder in einer Gruppe unterwegs war, rannte oder ungeduldig die umgebenden Hügel auf- und abschritt. Frühling oder nicht, die Menschen kamen aus ihren Häusern, fanden Gefallen an diesen grünenden Gebieten und machten aus einem Forstweg die Hauptstraße ihres urbanen Umfelds. L.L. und I. bildeten keine Ausnahme von diesem Verhaltensmuster, und auch sie wurden dabei gesehen, wie sie mit der im Halbschlaf befindlichen Menge marschierten. Erst zu einem späteren Zeitpunkt trennten sich ihre Wege, als L.L. nach einer ziemlich langen Abwesenheit allein zu den Archiven ging, um zu beenden, was sie Monate zuvor begonnen hatte: um E.M. in ihren Emotionen zu begleiten und eine Tür zu schließen. Der Winter war fast vorüber.

 

In einer Abfolge kurzer, rhythmischer Handlungen eilt L.L. eine Treppe hinunter, wodurch sie das vertraute Echo der Kopfsteinpflasterstraßen hinter sich lässt, und stößt einige schwere Türen auf, nur um zu sehen, dass die beiden Archivare ruhig hinter ihrem Holzschreibtisch sitzen. Alles wie immer, alles wie gedacht. Die Archivare spähen neugierig über die Brillenränder, sagen aber nichts. Begrüßungen und Wünsche scheinen unangebracht, höfliche Rituale ein unangemessener Eingriff in ein Zeitsegment, das unmittelbare Fortführung verlangt. L.L. fühlt sich in dieser Stummheit willkommen: Sie setzt sich hin und streicht mit der Hand über den Tisch. Sie lächelt.

Der Lesesaal dehnt die Choreographie von Augenbrauenbewegungen aus und verstärkt eine einladende, ungebrochene Stille. Betrachtete man diese Szene aus einer seitlichen Perspektive, von der Höhe einer Person aus, die auf einer Tatami sitzt, könnte man auf einer Seite des Tisches die Archivare, und auf der anderen L.L. sehen. Ihre Köpfe sind nicht ganz im Bild, aber natürlich liegen viele Arme auf dem Tisch verteilt. Hinter einem Dokumentenstapel schiebt der ältere Archivar eine recht kleine Streichholzschachtel mit beiden Händen über den Tisch: Zehn schwarze Finger, hinter der Schachtel gruppiert, bewegen ein scheinbar bedeutungsloses Objekt zu L.L. In dieser Situation und Atmosphäre hätte es ebenso eine Tasse grünen Tees sein können. Stattdessen ist es eine Streichholzschachtelzeremonie. Um sie entgegenzunehmen, beugt sich L.L.s Körper vor, ihre linke Hand ruht auf dem Oberschenkel, während die rechte die Streichholzschachtel ergreift, um sie näher heranzuholen. Erst nach diesem präzisen Bewegungsablauf nimmt L.L. die Streichholzschachtel in beide Hände und dreht sie sachte um. Sie macht kein Geräusch. Ist sie leer? Und ist sie überhaupt hier?

 

L.L.s raue Stimme:

„Wir sind E.M. nah, so nah es uns möglich ist …. Ihr Herz war zeitweise herausgenommen, in einen Koffer gelegt und an einen Ort gebracht worden, den wir weder sehen noch intuitiv finden können. Nur die Musik gewinnt immer mehr an Intensität. Es ist stockdunkel. Das Herz schlägt, umgeben von Mikrophonen, Trommeln, Gitarren und Klavieren. Wir wissen nicht, wer spielt, aber die Grenzen der Instrumente und des Herzens werden auf die Probe gestellt. E.M. spürt, dass sie zu nah beieinander sind, das Herz und die Klänge … Wie wird es weitergehen? Was geschieht? Wie laut es ist, und wie das Herz zerspringen könnte … Die Angst wächst, während rote Zahlen auf E.M.s bleiches Gesicht geworfen werden, als wäre es ein Countdown. Die Musik wird schmerzlich laut und fast körperlich. Ihre Vibrationen berühren buchstäblich E.M.s dunkelrotes Herz. Sie weiß, dass es nicht mehr lange so weitergehen kann, und sie hat Angst vor dem Ende. Jedes Instrument birst an seinem Optimum, und genau an diesem Punkt hört alles auf. Zusammen mit dem Elefanten bricht die gewaltige Klangskulptur unverzüglich auf dem noch immer pulsierenden Organ auseinander.

Von der ansteigenden Spannung befreit, fängt E.M. an zu weinen.

 

Allerdings war das Filmmaterial, das die Hinrichtung des Elefanten eingefangen hatte, nicht von Musik begleitet. Es war ein Stummfilm. Wie E.M. es empfand und warum all diese Instrumente ihr Herz bedrängten, sind Fragen, die sich nicht einfach beantworten lassen. War das eins der Erinnerungsstücke, die immer wieder neu aufgelegt werden, ob man wach ist oder tief schläft? Wie oft wiederholte sie es für sich? Schrieb sie über die Ungeheuerlichkeit dieser Hinrichtung an Zeitungen? Hätte es geholfen? Je öfter diese Erinnerung in ihrem Kopf läuft, desto mehr Antwortfragen ergeben sich. Es ist jedoch sicher, dass es von diesem Moment an kaum ein sensibles Thema gab, das sie nicht zu Tränen rührte. So sehr sie es auch möchte, sie kann sie nicht länger zurückhalten. Ihr Ärger bleibt so schmerzhaft, wie um ihr zu helfen, den Schatten des Elefanten jeden Abend zu tragen.

In den Jahren, die auf diese bewegenden Ereignisse folgten, überrollte die Zeit E.M.s Leben und verwandelte es in eine scheinbar glatte Oberfläche. Es gibt kaum mehr Hinweise darauf, die uns sagen, wer sie war, was sie tat, was sie noch bewegte und zu welchem moralischen Preis. Die fragmentarischen Quellen, die im Archiv gelagert sind, rollen vor unseren Augen ab wie ein von Hand gefärbter Film mit vielen schwarzen Punkten. Von all ihren Aufzeichnungen, von ihrer Korrespondenz ist nur ein Stapel geblieben. Kann E.M.s Leben in eine kleine Schachtel mit Papieren, Berichten, einem Album und ein paar ungarischen feministischen Postkarten passen? Die Röntgenaufnahme bleibt ihr bestes Porträt.

Einzig gestützt auf die historischen Aufzeichnungen aus diesem Archiv, erscheint uns E.M. als eine Frau, die eine enge Verbindung mit den Frauenbewegungen hatte, die wie Pilze aus dem österreichisch-ungarischen Boden schossen. Telegramme von Kongressen, Postkarten und kurze Reiseberichte bilden unvollständig ihre zahlreichen Reisen und ihr Netzwerk ab, während viele handschriftliche politische Artikel und Übersetzungen auf ihre unsignierten Zeitungsbeiträge hinweisen. Ein paar andere Quellen aus den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zeigen eine persönliche Verbindung zu den ungarischen Feministinnen in Budapest, zu Mitgliedern der Internationalen Frauenwahlrechtsverbindung und zu Politikern, die die Internationale Verbindung der Männer für Frauenwahlrecht unterstützten. Die Belege sind zwingend: Frauenwahlrecht war auch E.M.s täglicher Kampf. Und doch, abgesehen von diesen groben Zügen, die E.M. eine Kontur geben, liegt für heutige Geschichtsbücher alles, was E.M. tat, jenseits des Reichs der Vergessenen. Ihre Aktivitäten sind kaum mehr sichtbar, verzerrt vom Nationalismus. Sie war eine von vielen, die keine vorherrschende Rolle in der Gesellschaft spielten und nicht zur idealtypischen Feministin wurden.

 

Ein wenig weißer Rauch, ein wenig Magie. E.M. sitzt in einem dunklen Raum. Ihre Wimpern formen zwei Halbkreise aus Licht. Die Handkamera bleibt auf ihr drauf, während sie Distanz gewinnt.

 

Sie hat gesehen und gefühlt, erforscht und gelitten, aber ihr Leben und ihre Tränen müssen noch einen Biographen finden. Das Album, ihr privates Gefühlsarchiv, zeichnet nur noch zwei weitere Erfahrungen auf, ein mikroskopischer Teil einer kollektiven Geschichte von Empfindsamkeiten.

 

Mit jedem Wort, das ich sage, wird ihre Silhouette in der Entfernung kleiner. Die Halbkreise zittern immer noch in silbernem Licht.

 

Nachdem sie die Hinrichtung des Elefanten auf dem elektrischen Stuhl gesehen hatte, schließt sich E.M. den enthusiastischen örtlichen Massen an, um Buffalo Bills Vorstellung in ihrer Heimatstadt im Sommer 1906 zu sehen. Buffalo Bill, dessen Ruhm über den Atlantik drang, bereiste Europa mit hunderten Pferden und Menschen für seine ‚Wildwest‘-Aufführung. Zeitungen berichteten, dass mehrere Züge nötig waren, nur damit seine Vorstellung auf Reisen gehen konnte. Aber in E.M.s Album findet sich lediglich ein überbelichtetes Schwarzweißfoto, um seine Aufführung zu bekunden. Daneben ein unbestimmter Artikel und zwei Substantive:

 

ein

Büffel

Mörder

 

Im dunklen Hintergrund sind zwei stechende Lichtpunkte gerade dabei, zu einem Quecksilberpunkt zu verschmelzen.

 

E.M.s letzter Eintrag im Album ist auf ‚Herbst 1913‘ datiert, und eine Trauerreise nach Budapest wird diskret erwähnt. Zugfahrscheine bestätigen, dass E.M. nicht lange nach der Teilnahme am Internationalen Feministinnenkongress, der Budapest im Sommer 1913 eroberte, ihren Weg zurück in die Stadt gefunden hatte. An einem späten warmen Nachmittag kam sie mit dem Zug an, den Hut in einer Wolke aus Staubpartikeln, und brachte eine außergewöhnliche Menge an roten und gelben Jonathan-Äpfeln aus ihrem Obstgarten mit: nicht weniger als die Früchte von dreiundfünfzig Apfelbäumen. Nachdem sie in einer Broschüre, die auf dem Kongress verteilt worden war, über den zoologischen Garten von Budapest gelesen hatte, leitete E.M. den Transport der Äpfel zum Zoo ein. Mehr als eine halbe Million Kronen waren in den Zoo als städtische Attraktion investiert worden. Dort ‚benehmen sich Tiere, als befänden sie sich in der freien Natur, und man bemerkt kaum, dass der Zuschauer von ihnen nur durch einen tiefen Graben getrennt ist‘ – lautete ein Satz, den E.M. in Anführungszeichen in ihr Album geschrieben hatte.

An diesem glühenden Herbstnachmittag verfütterte E.M. alle Äpfel an die Elefanten des Zoos – einszweidreivierfünf Äpfeleinfachso.

 

Von oben betrachtet ist E.M. nur ein beweglicher Schatten in diesem quadratischen Bild. Die Zooelefanten gehen mit zersprungenen Fußnägeln um sie herum. Ihre Bewegungen sind mechanisch, manche schreiten denselben Weg auf und ab, andere schwanken regelmäßig von Seite zu Seite. Die Elefantenschritte hallen mit physischer Qual wider. Ihre Körper sprechen geradlinig von Entkräftung und Entmündigung.“

Postskriptum?

 

Eine unbestimmte Zeitspanne ist vergangen, seit ich die Türen zum Archiv geschlossen habe. In jenem Moment, mit meiner Hand auf dem Türknauf, hatte ich das unwiderrufliche Gefühl, dass ich niemals zurückkehren würde. So wie wenn jemand sihren Koffer verliert und vom Bauchgefühl her weiß, dass er niemals wieder auftauchen wird. Fort. Aber statt Verlust spürte ich Erleichterung, und alles schien mir voller Möglichkeiten. Die Sonne hatte endlich goldenere Töne angenommen. Und die Stimme, die ich gehört hatte, überredet hatte, mit der ich mich unterhalten und gestritten hatte, verschwand ebenfalls mit dem Schließen der Tür. Vielleicht ist sie dort geblieben, irgendwo gefangen zwischen den Schichten aus Zeit und Mauerwerk. Ich wollte mir darüber keine Gedanken machen, also beeilte ich mich, seltsam zielstrebig, zum Bahnhof zu kommen, wie um eine wohltuende Prophezeiung zu erfüllen, von der ich einmal in einer langen Winternacht gehört hatte. Eine ungezügelte Menschenmenge rannte an mir vorbei, wie Regentropfen an einem Fenster. Im Vorbeiziehen trommelte und hämmerte jeder von ihnen zwei Sätze einer Unterhaltung in mein Mittelohr.

So begannen mein Wolkenbetrachten und meine Frühlingserkundungen am Meer.

 

L.ephant

 

Impressum

Erstveröffentlichung
Fiktion, Berlin, 2015
www.fiktion.cc
ISBN: 978 3 944818 85-6

 

Projektleitung

Mathias Gatza, Ingo Niermann (Programm)

 

Henriette Gallus (Kommunikation)
Julia Stoff (Organisation)


Titel der Originalausgabe

Elephant Chronicles


Übersetzung aus dem Englischen

Zoë Beck

 

Lektorat
Mathias Gatza

 

Korrektorat
Rainer Wieland


Lektorat der Originalausgabe

Charis Conn


Beratendes Lektorat

Alexander Scrimgeour

 

Design Identity
Vela Arbutina

 

Programmierung
Maxwell Simmer (Version House)

 

Das Copyright für den Text liegt bei der Autorin.

 

Fiktion wird getragen von Fiktion e.V., entwickelt in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt und gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.

 

Fiktion e.V., c/o Mathias Gatza, Sredzkistrasse 57, D-10405 Berlin

 

Vorstand
Mathias Gatza, Ingo Niermann
Vereinsregisternr. VR 32615 B beim Amtsgericht
Charlottenburg (Berlin)

 

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